»Dies ist eine Finanzierungsrevolution« – Interview mit Prof. Dr. Axel Mühlbacher

Visionen & Realitäten der Integrierten Versorgung

Die Sektorengrenzen zwischen ambulanter und stationärer Versorgung gelten im deutschen Gesundheitssystem als eines der zu überwindenden Kernprobleme auf dem Weg zu einer bedarfsgerechten und kosteneffizienten Versorgung. Seit dem GMG im Jahr 2000 ist die sog. Integrierte Versorgung (IV) gesondert in den §§ 140 a-e SGB V geregelt. Der neue »140er« im GKV-WSG sollte einen neuen Schub in die starren Versorgungsstrukturen geben. Zwar gab es zuvor u. a. mit Modellvorhaben und Strukturverträgen (§ 63 und § 73 SGB V) oder den »dreiseitigen Verträgen« Optionen zur partiellen Überwindung bestehender Hürden, doch kein Instrument öffnete derart viel Handlungsspielraum. Aber: Wie steht es um das Instrument und wie geht es Ende 2008 weiter, wenn die 2004 begonnene Anschubfinanzierung für IV Projekte ausläuft?

Wie steht es um die Integrierte Versorgung in Deutschland?

Zunächst muss geklärt werden, was man konkret unter IV versteht. Geht es um die allgemein mit dem §§ 140 a ff. SGB V verbundenen integrierten Organisationsformen oder auch um mehr. Denn viele Möglichkeiten des 140er, die Vertragsbeziehungen auszugestalten sind revolutionär und in der allgemeinen Wahrnehmung kaum präsent. So war es zuvor nicht möglich, Personal sektorübergreifend unabhängig vom Zulassungsstatus einzusetzen. Dies ist nun möglich – Krankenhäuser können im Rahmen von IV-Verträgen »Versorgungspakete« sowohl im ambulanter als auch stationärer Art anbieten! Oder nehmen wir das Bei spiel Medizintechnik und Telemedizin. Die unterschiedlichen Genehmigungsprinzipien aus Verbotsvorbehalt im stationären Sektor bzw. des Erlaubnisvorbehalts der ambulant-ärztlichen Versorgung können überwunden werden. Alles dies schafft Freiheiten, da Leistungen als Vertragsgegen stand definiert werden dürfen, solange vom Gemeinsamen Bundesausschuss keine ablehnende Entscheidung getroffen wurde.

Der 140er könnte somit ein Schlüssel für mehr Vertragsfreiheit und eine verbesserte Versorgung sein – aber, um die Frage in einem Satz zu beantworten: Im Großen und Ganzen wurden diese Freiheiten in Deutschland bislang nicht genutzt! Dies ist eine Finanzierungsrevolution – nutzt die Chancen des Einzelvertragssystems!

Und in dieser Revolution ist mehr Freiheit das Prinzip …

… nehmen Sie doch gleich auch das Beispiel der Vergütung. Die Möglichkeiten liegen auf dem Tisch, das Kollektivvertragssystem kann komplett ausgehebelt werden. Die Türen zu Einzelverträgen und leistungsorientierten Vergütungsinstrumenten stehen weit offen. Es gilt immer, frei zu denken und sich von der Orientierung an den gewohnten Strukturen frei zu machen. Dazu werden wir auch noch gezwungen werden – besonders dann, wenn nationale oder internationale Investoren das Potential der Gesundheitswirtschaft entdecken.

Der Kostendruck?

Nicht nur dieser, obschon der demographischer Wandel und der medizinisch-technische Fort schritt hier einige Anpassungsmaßnahmen erfordern wird. Nein, auch die Bevölkerung wird zu nehmend die sich entwickelnden Qualitätsdifferenzen in der Versorgung zu anderen Ländern der Welt nicht mehr hinzunehmen bereit sein. Koordinierte Versorgungsprozesse sind in Europa auf dem Vormarsch – innovative Ansätze des Gatekeeping, Case Management und patientenorientierte Disease Management Programme sind in der Schweiz, den Niederlanden und sogar in England weit fortgeschritten. Wir haben diese Bereiche stark reglementiert – das optionale Angebot von Wahltarifen in der GKV im Rahmen des § 53 SGB V verspricht in Zukunft mehr Wettbewerb.

Wenn diese Freiheiten so viel versprechend sind, warum wurden Sie denn bislang kaum ernsthaft genutzt? Die meisten IV-Verträge erscheinen ja eher bemitleidenswert.

Zunächst ganz einfach: Selbst mit der Anschubfinanzierung ist es ganz einfach zu teuer. Selbst wenn recht positiv geschätzt wird, sind vielleicht 20% Einsparungen durch das optimierte Versorgungsmanagement zu erzielen. Konventioneller geschätzt eher 12% im Vergleich zur traditionellen Versorgung. Auch die Erfahrungen aus den USA und der Schweiz lassen kaum größere Prognosen zu. Diese Einsparungen müssen jedoch auch einen deutlichen Management-Mehraufwand kompensieren. In Kombination mit Hochrisikopatienten bleibt zumeist ein unternehmerisch – für viele – nicht kalkulierbares Risiko.

Also doch das Ende der Revolution? Wohin also? Fordern Sie mehr Risikobereitschaft?

Es gibt Unternehmen, die das notwendige Knowhow für das Management von IV-Strukturen mitbringen. Aber auch diese fragen sich bevor sie investieren, ob ein Engagement die zusätzlichen Aufwendungen rechtfertigt. Die Antwort ist: Es wird nur realisierbar sein, wenn innovative Versorgungsangebote für den Versicherten oder die Krankenkassen einen Mehrwert generieren. Krankenkassen stehen bereits seit längerem im Wettbewerb untereinander. Integrierte Versorgungsprogramme in Kombination mit Wahl- oder Zusatztarifen bieten die Möglichkeit die Kundenbindung zu stärken oder neue Versichertengruppen – wie z.B. chronisch Kranke – zu gewinnen. Dies ist natürlich erst sinnvoll, nach Einführung des Morbi-RSA. Nehmen Sie das größere Bild der deutschen Krankenversicherungslandschaft. Morbi-RSA, Wahltarife, Boni, Leistungstarife – auch hier hält größere Freiheit in die Ausgestaltung des Versicherungsmarktes Einzug. IV könnte sich hier darstellbares zusätzliches Leistungsangebot entwickeln, es kommt dann auf die Akzeptanz der Versicherten an. Ich bin mir sicher, dass die Versicherten und letztendlich die Patienten die konsequente Umsetzung koordinierter Versorgungsangebote honorieren.

Welche Rolle spielt dann noch der 140er?

Der 140 wird in der Diskussion kleiner gemacht als er ist. Es geht immer nur um die Anschubfinanzierung oder lediglich um die Überbrückung einiger Schnittstellen. Es fehlt die Vision dessen, was integrierte Versorgung zu leisten im Stande ist. Es wird nicht erzählt, was möglich ist!

Visionen klingen wenig fassbar. Was müsste denn erzählt werden?

Sie haben Recht. Wir denken immer nur in traditionellen Akteursbeziehungen und kommunizieren immer nur institutionelle Reorganisation. Andere Industrien und Dienstleistungsbranchen haben es doch vorgemacht. Wenn Sie ein Auto kaufen, kaufen Sie keine vier Räder mit Motor und Sitz – sie kaufen Mobilität! Ein Handy ist nicht nur mobiles Telefon, es ist Kommunikation. Oder nehmen Sie eine ganz normale Pauschalreise. Sie interessiert doch nicht die Prozessoptimierung im Hintergrund oder die technischen Verfahren zur Reiseplanung. Sie kaufen Erholung, Wellness, Fitness – eben ein Gesamtpaket, mit ineinander greifenden Leistungsangeboten. Übertragen Sie diese Alltagserfahrungen und Ansprüche auf die Gesundheitsversorgung. Wir wollen nicht Medizin, nicht ein Medikament, wir wollen Versorgung. Vom Erstkontakt mit dem Hausarzt über Information, Begleitung, Ansprechpartner in der Klinik, etc. pp. und gehen Sie davon aus, dass die Menschen bereit sein werden für entsprechende Angebote im Gesundheitswesen auf andere Konsumgüter zu verzichten.

Das klingt jetzt wieder einfach: Wir brauchen mehr Geld!?

Für zusätzlichen Service sind wir immer bereit auch zusätzlich zu investieren – wir setzen unser Geld dort ein, wo unsere Präferenzen bzw. Bedürfnisse befriedigt werden. Warum nicht im Gesundheitswesen? Aber Sie können das auch anders aufziehen. Normalerweise gilt in der Ökonomie, dass Sie entweder aus einem festen Topf die maximale Leistung anstreben können oder aber eine fixe Leistung mit minimalen Mitteln zu realisieren versuchen. Sie können nicht beides gleichzeitig: oder versuchen Sie einmal die längste Strecke, in der kürzesten Zeit zu laufen. In der Gesundheitsversorgung kann dieses Paradoxon aber gelingen. Denn durch ein gutes Management und die Optimierung der Versorgungsprozesse können Kosten eingespart werden.

Wer soll das den machen?

Um zu wissen, wer am besten geeignet ist, diese Vision umzusetzen, müsste man zunächst klären, welche Kompetenzen notwendig sind. Es ist zu nächst die Frage, wie man Organisationen und Netzwerke aufbaut – dies ist eine Aufgabe des Netzwerkmanagement. Auf der zweiten Ebene müssten das die Leistungen der Gesundheitsversorgung geplant, kontrolliert und gesteuert werden. Dies sind dann die DMPs, also die Managementaufgabe, die sich damit befasst, welche Krankheiten mit welchen Methoden behandelt und mit welchem Nutzen für den Patienten angeboten werden. Schließlich folgt die Aufgabe der Patientensteuerung – also Case Management – hier fehlen oftmals die notwendigen Kompetenzen im menschlichen Umgang und der Kommunikation.

Das klingt nach viel Arbeit. Also wieder: Wer macht die Kärrnerarbeit dieser Visionen?

Die Ebene der Geschäftsführung und der Entschei der kann den Begriff der Integrierten Versorgung oft nicht mehr hören. Fraglich ist, inwieweit die Mitarbeiter in einem Krankenhaus, den Rehakliniken und einer niedergelassenen Praxis von den Chancen und Potentialen der IV mitbekommen haben. Wenn der Umsetzungswille da ist, muss die Vision auch an die Mitarbeiter weitergegeben werden. Und ein bisschen Eigenwerbung darf ja sicherlich mit einfließen: Wir haben im Institut für Gesundheitsökonomie und Medizinmanagement explizit für den Aufbau und das Management von Netzwerken der Integrierten Versorgung ein eigenes Qualifizierungsangebot entwickelt und mit eigenen Studienbriefen aufgebaut!

Wenn Sie sagen Geschäftsführung, lässt dies im Gesundheitswesen hauptsächlich die Krankenhäuser übrig?

Krankenhäuser verfügen sicherlich zunächst über die institutionellen Strukturen, um in diese Richtung zu gehen. Ganz banal: Sie haben zumindest bereits ein Management. Der einfache niedergelassene Arzt, selbst wenn er in einer Gemeinschaftspraxis organisiert ist und über die Qualifikation verfügt, hat selten über die zeitliche Kapazität, sich um diese Dinge zu kümmern. Aber man darf beispielsweise auch die Medizinischen Versorgungszentren (MVZs) nicht vernachlässigen, welche eine notwendige Organisationsform für den ambulanten Sektor darstellen – hier gibt es einige herausragende Beispiele mit innovativen Ideen und ausreichenden Kompetenzen.

Wieso folgt niemand diesen Visionen? Bringen Sie schließlich doch zu wenig?

Oftmals ist es leider so, dass alle jammern, aber dann doch nicht aus dem Gewohnten raus wollen. Oft zitiert: »Der Rock der GKV ist eng, aber warm«.

Sind die Deutschen zu träge oder ist der Druck noch nicht groß genug?

Die Frage kann und will ich nicht beantworten. Zuerst muss betont werden, dass gesellschaftlichpolitische Systeme immer Pfadabhängig sind – man muss auf Basis des Status Quo Neurungen durchsetzen, eine Neuausrichtungen muss sich an den Gegebenheiten orientieren. Es wäre unsinnig die bisherigen Erfolge der Politik und der Akteure zu schmälern – es gibt Experten in Politik und Wissenschaft, ambitionierte Arbeitgeber und motivierte Arbeitnehmer. Aber sicherlich könnten Investoren von Außen etwas frischen Wind in das System bringen. Jeder Schritt in Richtung mehr wettbewerbliche Elemente, bei der Gewährleistung des Solidarprinzips, bringt Investoren näher und mit Ihnen neue Ideen zur Verbesserung unserer Versorgungsstrukturen. Hierfür muss der Weg geebnet werden – wobei deutlich gesagt werden sollte, dass wir die Potentiale der bestehenden Gesetzgebung im SGB V bei weitem nicht ausnutzen. Die Zukunft wird Integrierte Versorgungssysteme bringen.

Werden wir uns also in einigen Jahren alle in enger, gemanagter integrierter Obhut großer Versorgungsketten befinden?

Freiheiten für neue Ideen und Ansätze zu schaffen, heißt ja nicht, dass nur eine einzige Lösung entsteht. Im Endeffekt soll und wird der informierte Versicherte und Patient entscheiden, wann und wo er medizinische und pflegerische Leistungen in Anspruch nehmen will. Kritik ist nur berechtigt, wenn wir davon ausgehen können, dass ein Individuum nicht in der Lage ist zu entscheiden: aber gibt es bei ausreichender Information nicht viele Ansatzpunkte, damit Menschen an den Entscheidungen über ihre Versorgung entsprechend ihrer Präferenzen partizipieren. Kostendruck und die viel zitierte Unter- und Fehlversorgung, die Deutschland zunehmend aufweist, wird uns aber zwingen, neue Wege bei der Versorgung zu ermöglichen. Der Patient & Verbraucher sollte dann an den Entscheidung teilhaben – jeder sollte gefragt werden, welchen Weg er gehen möchte.

Prof. Dr. Axel Mühlbacher lehrt am IGM Institut für Gesundheitsökonomie und Medizinmanagement, Hochschule Neubrandenburg.