Mehr Geld für Vorbeugung bitte! Präventionsforschung in Berlin

Absichten und Taten klaffen beim Thema Gesundheitsprävention weit auseinander. Wie meistens fehlt es an Geld, Übersicht und Vernetzung – Charité-Professor Willich warnt vor katastrophalen Folgen für den Fall, dass das Prob­lem nicht ernster genommen wird.

Im Prinzip sind alle dafür. Alle sagen: Ja, Vor­beugen ist notwendig und langfristig auch weniger teuer als die Therapie. Alle sind sich inzwischen darin einig, Prävention und Gesund­heits­förderung als vierte Säule des Gesundheitssystems ausbauen zu wollen – neben Heilung, Pflege und Re­habilitation. Aber folgen den Worten auch Taten?

Für die Wellness-Industrie ist gesundheitliche Prävention schon lange das wichtigste – und einträglichste – Thema. Politisch jedoch scheint der Stein noch nicht so recht ins Rollen zu kommen. Wie man gut am Beispiel »Präventionsgesetz« sehen kann: 2005 von Bundestag verabschiedet, dann vom Bundesrat zurückgewiesen, mehrfach überarbeitet, ist es bis heute nicht in Kraft. Einige haben es schon zu den Akten gelegt, andere hoffen noch, dass es in den verbleibenden anderthalb Jahren der Legislaturperiode weiterkommt. »Ein offizielles Begräbnis gab es noch nicht«, heißt es im Bundesgesundheitsministerium. »Wir schließen nicht aus, dass noch einmal Bewegung in die Sache kommt.« Auch für Ulla Schmidt gilt: Die Hoffnung stirbt zuletzt. Vorher streiten sich SPD und CDU weiter über die Finanzierung und Um­setzung.

»Dabei wäre das Gesetz ein wichtiger Anfang«, sagt Stefan Willich, Professor und Direktor des Instituts für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitsökonomie der Charité-Universitäts­medizin Berlin. »Die Politik muss das Thema endlich richtig ernst nehmen und mehr tun«, meint Willich, »denn es rollt eine Lawine medizinischer Probleme auf uns zu.« Und Kosten. Wenn Über­ge­wicht, Diabetes, Herz-Kreislaufprobleme künf­tig nicht stärker prophylaktisch verhindert würden, werde es in zehn oder fünfzehn Jahren zur me­dizinischen und finanziellen Katastrophe kom­men, warnt er.

Dass Prävention wirkt, also tatsächlich die Ausbreitung der großen Volkskrankheiten mindern kann, davon ist Willich überzeugt. »Es gibt zwar noch nicht viele Langzeitstudien, aber die, die es gibt, sind sehr ermutigend.« Natürlich sei gute Prävention erst einmal eine Investition. Aber, so glaubt er, »das Geld kommt wieder rein.« Nach ein paar Jahren.

Das sagt auch Rolf Dieter Müller, bis 2007 Vorsitzender der Berliner AOK: »Durch eine ef­fektive und effiziente Prävention können nicht nur die Lebensqualität und die Leistungsfähigkeit der Menschen nachhaltig verbessert, sondern auch zukünftige Krankheitskosten verringert werden – vor allem durch Vermeiden bzw. Ver­zö­gern chronischer Krankheiten.« Auch durch we­niger Früh­ver­rentungen etwa spart der Staat – bzw. die Ren­tenkasse – Geld.

Zu wenig Geld für Präventionsforschung

Um aber zu wissen, ob Vorbeugungs­maß­nah­men das Auftreten von Krankheiten wirklich verhindern oder zumindest herauszögern können, muss mehr über Prävention geforscht werden. »Da gibt es große Defizite«, sagt Müller, »denn bislang kümmert sich die Gesund­heits­for­schung vor allem um die Medizintechnik und die Phar­mazie«, also um Therapie statt Vorbeugung.

»Bislang fühlt sich keiner so richtig für die Präventionsforschung zuständig«, beklagt auch Willich. »Die Krankenkassen jammern, sie dürften dafür kein Geld ausgeben, und die Industrie hat naturgemäß wenig Interesse am Thema.« Also müsse die Politik sie stärker fördern. Es müssten zum Beispiel die existierenden Projekte wissenschaftlich begleitet werden, um herauszufinden, wie sie sich auf die individuelle Gesundheit und auch gesellschaftlich auswirken. »Wir brauchen dringend substanzielle Fördertöpfe«, sagt Willich. »Und es fehlen noch die großen Programme.« Das Bundesgesundheits- und das Forschungs­minis­te­rium müssten sie anstoßen. Willich schlägt außerdem vor, die Krankenkassen zu verpflichten, einen festgelegten Anteil der Versicherungsbeiträge in die Forschung zu investieren.

Immerhin hat das Bundesministerium für Bil­dung und Forschung 2003 einen Förderschwer­punkt Präventionsforschung etabliert, für den es nach eigenen Angaben bis 2011 insgesamt rund 20 Millionen Euro zur Verfügung stellt. Allein in diesem Jahr sollen es 4,1 Millionen Euro sein. Aber nach Ansicht Willichs reicht das nicht aus.

In den ersten drei Ausschreibungsrunden hat das BMBF 46 Forschungsprojekte gefördert. Da­zu gehören auch einige Vorhaben aus Berlin und Brandenburg. So zum Beispiel ein Projekt der Ar­beits­gruppe Public Health des Wissenschafts­zent­rums Berlin für Sozialforschung gGmbH (WZB) unter Leitung von Rolf Rosenbrock. Gefördert wurden auch Vorhaben des Instituts für Psycho­logie der Universität Potsdam, der Technischen Fachhochschule Berlin (Wirtschafts- und Gesell­schafts­wissenschaften), des Vereins Gesundheit Berlin, des Vereins für Kommunalwissenschaften am Deutschen Institut für Urbanistik (Difu) und der Abteilung Psychosoziale Gesundheit des Robert-Koch-Instituts (RKI).

Es ist allerdings schwierig, Ausgaben speziell für Präventionsforschung zu beziffern, da sie zum Teil in Projekten der allgemeinen Gesundheits­for­schung und -förderung stecken. So sei die Präven­tion zum Beispiel ein wichtiger Bestandteil von För­dermaßnahmen zur Infektiologie, zur Sucht­for­schung oder des Projekts »Kompetenznetze in der Medizin«, betont ein Sprecher des BMBF.

Eines der großen Probleme der praktischen Prävention ist die schwierige Erreichbarkeit der besonders wichtigen Zielgruppen: den so genannten Risiko- oder Problemgruppen aus den unteren Gesellschaftsschichten, die sich oft ungesund ernähren und zu wenig bewegen – und in der Konsequenz am teuersten für das Gesund­heits­system sind. Tatsächlich nähmen meist diejenigen Ver­sicherten Präventionsangebote der Kranken­kas­sen in Anspruch, die ohnehin gesundheitsbewusster seien. Bei den Gruppen etwas zu bewirken, die am stärksten von chronischen Volks­krankheiten be­trof­fen sind, sei »eine besonders schwierige Her­aus­forderung«, sagt Wissenschaft­ler Willich. Aber er versucht es: Er hat zum Bei­spiel an seinem In­stitut in Zusammenarbeit mit dem Bundesge­sund­heitsministerium ein Projekt zur Schlag­an­fall­prophylaxe bei Migrantinnen begonnen, bei dem Mitarbeiter gezielt in deren Kieze gehen, um verständliche, angemessene und vor allem wirkungsvolle Aufklärungsprogramme zu entwickeln.

Insgesamt mangelt es jedoch noch an qualitätsgesicherten und zielgruppenorientierten Maß­nah­men, heißt es auch beim Bildung- und For­schungsministerium. Von diesem Sommer an wird es deshalb mit sechs Millionen Euro 14 For­schungs­projekte fördern, die sich explizit auf die Ziel­gruppe »Menschen in schwierigen sozialen La­gen« ausrichten – als vierte Phase des 2003 begonnenen Präventionsprogramms. Sie sollen im Ok­tober starten.

»Kassenleistungen für Prävention von drei auf zehn Prozent erhöhen!«

Das Netzwerk »HealthCapital Berlin Bran­denburg« fordert, dass das seit Jahren diskutierte Präventionsgesetz die risikogruppenorientierte kollektive wie auch die individuelle Vorsorge gleichermaßen verankern und fördern müsse. Außer­dem solle es »explizit eine Erhöhung des Anteils der Prävention an den Versicherungsleistungen von derzeit knapp drei Prozent der Gesamt­aus­ga­ben zum Beispiel bis 2015 auf zehn Prozent (Stei­gerung von einem Prozent pro Jahr) beinhalten.« Es dürften nur solche Maßnahmen gefördert werden, die bereits evidenzbasiert sind oder von einer Wirkungsmessung begleitet werden (Dem Netz­werk gehören Akteure aus sämtlichen Bereichen der Gesundheit an – darunter Kran­ken­hausbe­treiber und -dienstleister, Forschungs­ein­rich­tun­gen, Unternehmen und Förderinstitu­tio­nen.).

Dass man mit der Prävention bei den Kleinsten anfangen muss, wissen alle. Hier gibt es auch seit einigen Jahren Projekte von Krankenkassen, Sport­verbänden und der öffentlichen Hand. Ziel ist, Kindern gesunde Ernährung nahe zu bringen und dafür zu sorgen, dass sie sich viel bewegen. Denn Übergewicht ist teilweise schon im Kita-Alter ein Problem. Für solcherlei Maßnahmen zeigen Studien auch bereits Erfolge: Teil­neh­mende Kinder wiegen weniger und sind gesünder.

Auch die Bertelsmann-Stiftung fördert zum Bei­spiel bundesweit ein Programm, in dem die be­tei­ligten Schulen die Gesundheitserziehung in je­des Unterrichtsfach integrieren. Berlin gehört seit 2004 zu den Modellregionen (http://www.anschub.de).

Besonders vorbildliche Projekte werden seit 2004 mit dem Deutschen Präventionspreis ausgezeichnet – Träger sind in diesem Jahr das Bun­des­ministerium für Gesundheit, die Manfred-Lau­ten­schläger-Stiftung und die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung.

Das Netzwerk HealthCapital verweist in diesem Zusammenhang auf die Chancen der Ver­zah­nung des bevölkerungsreichen Berlin mit dem Agrar-Umland: »Für enge Netzwerke der regionalen Versorgung mit landwirtschaftlichen Pro­duk­ten und Lebensmitteln bieten sich einzigartige Möglichkeiten.« Und durch die Entwicklung zur Ganztagsschule und zum Vollzeitkindergarten erhalte die Schulspeisung eine völlig neue Be­deu­tung. Die Initiative schlägt dem Land Bran­den­burg vor, einen auf Gesundheit fokussierten »Mas­terplan Ernährungswirtschaft« zu erarbeiten, der von der Wertschöpfungskette ausgeht – von Forschung, Entwicklung und Ausbildung über Anbau und die verschiedenen Verar­bei­tungs­stufen bis hin zum Endverbraucher.

Präventionsatlas Berlin-Brandenburg

Um all die bestehenden Angebote in der Region vorzustellen, erscheint im Juni der erste Prä­ven­tionsatlas Berlin-Brandenburg. »Er soll alle relevanten Angebote der Primärprävention vorstellen«, sagt Professor Willich, dessen Institut den Atlas erarbeitet hat. »Er bringt erstmals eine systematische Übersicht über den bestehenden engagierten Wildwuchs.« Verbraucher sollen schneller seriöse und für sie passende Angebote finden und Anbieter mögliche Lücken erkennen, die sie füllen könnten. Die AOK Berlin-Brandenburg und das Netzwerk HealthCapital finanzieren die erste Ausgabe und hoffen, dass der Berliner Senat die geplante jährliche Aktualisierung übernimmt.

HealthCapital würde übrigens gern auch noch eine ganz andere Form von Prä­vention gefördert sehen: die so genannten »Public Health Genomics«.

Individuelle genetische Risikofaktoren werden aus seiner Sicht immer wichtiger. Die molekulare Diagnostik könne schon heute genetische Veran­lagungen für verschiedene Krankheiten im Früh­stadium erkennen. Eine konsequente und individualisierte primäre Prä­vention würde zwar zu­nächst zu einer Ver­dop­pe­lung der Kosten für die Gruppe der 15 bis 30-Jährigen führen. Aber in den darüber liegenden Al­tersgruppen halbierten sie sich, was zu massiven Einsparungen im Ge­sund­heitswesen führe.

http://www.die-praevention.de (Bundesgesundheitsministerium)
http://www.HealthCapital.net/praevention_gesundhe.html
http://www.bvpraevention.de (Bundesvereinigung Prävention und Gesundheitsförderung e.V.)
http://www.deutscher-praeventionspreis.de/
http://www.charite.de/epidemiologie
http://www.anschub.de (ein von der Bertelsmann-Stif­tung ini­tiier­tes Programm für gesunde Schulen)
http://www.bmbf.de/foerderungen/10500.php (Präventions­for­schung des BMBF)
http://www.gesundheitsforschung-bmbf.de/de/842.php (Schwerpunkt Präventions­for­schung)