Ethik im Krankenhausalltag – Wie Klinische Ethikkomitees an Bedeutung gewinnen

Nach bestem Wissen und Gewissen, zum Wohle des Patienten handeln. Der hippokratische Eid ist auch heute noch maßgebend für ethisches Handeln im Klinikalltag. Doch was bedeutet zum Wohle des Patienten? Wer entscheidet, was richtig ist? Klinische Ethikkomitees versuchen bei der Entscheidungsfindung und Orientierung mitzuwirken und die Sensibilisierung für ethische Fragestellungen bei den Mitarbeitern zu erhöhen. In Berlin gab es 2002 das erste.

Herr Müller (Name geändert) sitzt aufrecht in seinem Bett. Die Sonne scheint durchs Zimmer, er blinzelt. Vor ihm steht ein kleiner Tisch mit Essen. Langsam und behutsam streicht er mit dem Messer die Butter auf seine Scheibe Brot. Obendrauf legt er sanft etwas Wurst. Doch die Nahrungsaufnahme ist für Herrn Müller nicht einfach. Schon einmal wäre er fast erstickt, weil er beim Essen einen epileptischen Anfall erlitt. Nach der Reanimation wurde die Frage der künstlichen Ernährung gestellt – ob eine PEG-Sonde gelegt werden muss oder nicht.

Die Mitarbeiter des Wohnheimes waren mit dieser Situation nicht vertraut und zogen das Ethikkomitee des evangelischen Krankenhauses zu Rat. »Wir haben dann das Gespräch mit den Angehörigen und den Mitarbeitern moderiert. Es wurde schnell klar, dass das Essen etwas ist, was für ihn ein Stück Lebensqualität bedeutet. Wir haben dann erklärt, dass die PEG-Sonde eine natürliche Nahrungsaufnahme nicht ausschließen muss.« Der Pfarrer Winfried Böttler ist Mitglied des Ethikkomitees des evangelischen Krankenhauses Königin Elisabeth Herzberge in Lichtenberg. Seit 2002 gibt es hier das Klinische Ethikkomitee und damit war es das erste in Berlin. Alle 6 Wochen treffen sich die 16 Mitglieder und besprechen aktuelle Probleme, erarbeiten Leitlinien, organisieren Fortbildungen.

Doch die Ärzte müssen nicht immer warten, bis die Mitglieder tagen, um ethische Beratung zu erhalten. Bei aktuellen Anfragen werden diese sofort behandelt. »Die Ärzte, die das erste Mal anfragen, sind überrascht, dass dies nicht immer mit einer einfachen Antwort getan ist.« Winfried Böttler macht erklärende Handbewegungen. »Wir legen viel Wert darauf, dass ethische Entscheidungen nicht einfach nebenbei abgewickelt werden.«

Ethikberatung gewinnt an Bedeutung

Die konfessionellen Krankenhausverbände ha ben1997 in Deutschland den Diskussionsanstoß für die Einführung Klinischer Ethikkomitees gegeben. Dabei diente das amerikanische Modell als Vorbild, die so genannten healthcare ethic commitees.

Seitdem hat sich die ethische Sensibilisierung in der Krankenhauslandschaft stark gewandelt. »In den letzten fünf bis sieben Jahren hat sich viel getan«, erklärt Prof. Dr. Jochen Vollmann, der Leiter des Instituts für Medizinische Ethik und Geschichte der Medizin in Bochum. Inzwischen gibt es deutschlandweit rund 300 Klinische Ethikkomitees und andere Formen der Ethikberatung. Dabei darf man Ethikkommission und Ethikkomitee nicht verwechseln.

Ethikkommissionen wurden in den 70er Jahren von den Landesärztekammern und medizinischen Fakultäten eingerichtet, um Forschungsvorhaben am Patienten aus ethischer, sozialer und rechtlicher Sicht zu beurteilen. Das Klinische Ethikkomitee stellt eine Institution dar, die direkt im Krankenhaus, in Pflegeheimen, Einrichtungen der Behindertenhilfe oder auch in der teilstationären und ambulanten Medizin angesiedelt ist. Die Mitglieder setzen sich mit den verschiedensten ethischen Problemen auseinander, die bei der Behandlung von Patienten auftreten können.

Der wachsende Stellenwert der Ethik ist nicht zuletzt auf den medizinischen Fortschritt zurückzuführen. Insbesondere die enormen Entwicklungen der modernen Intensivmedizin seit den 60er Jahren schaffen immer wieder auch neue Grenzen des medizinisch Machbaren. Dies hat zur Folge, dass auch der Bedarf an der Reflektion des eigenen ärztlichen Handelns stieg und mit ihr die Nach frage nach professioneller ethischer Beratung.

Die Befreiung des Patienten

Neu ist auch die Fragestellung: Wenn der Patient es wünscht, dürfen wir Behandlungsmaßnahmen unterlassen? Denn hierbei ist nicht nur die medizinische Seite zu betrachten. Eine unterlassene Handlung kann auch eine moralische Belastung für Ärzte und Ärztinnen darstellen.

Für die errungene Entscheidungsfreiheit des Patienten spielt die Veränderung der Gesellschaft eine große Rolle. Der sich wandelnde Wertekanon hat unter anderem die paternalistische Arzt-Patienten-Beziehung in Frage gestellt. Noch in den 70er Jahren wurden Patienten nicht darüber informiert, wenn sie an einer schweren Krankheit wie Krebs litten. Man war der Auffassung, dass ein Patient die Information über seinen schlechten Zustand nicht tragen kann. Heute hingegen hat die Patientenautonomie einen hohen Stellenwert er reicht. Über eine Patientenverfügung kann er über die Form seiner Behandlung bestimmen.

Doch in der Praxis bringt dies viele Unsicherheiten mit sich. Daher verfasste das Klinische Ethikkomitee der DRK Kliniken eine Leitlinie zum Selbstbestimmungsrecht von Patienten und Patientinnen. Hierin wird betont, dass jeder Fall individuell betrachtet werden müsse. Es solle immer die Gesamtsituation eines Patienten gesehen und dementsprechend eine Behandlung vorgeschlagen werden. »Die Indikationsstellung ist also nicht identisch mit dem ›technisch Machbaren‹.«

Der Qualitätswettbewerb

Auch bei den DRK Kliniken stellen die Leitlinien nur einen Teil der Arbeit im Ethikkomitee dar. »Bei uns war von Anfang an klar, dass wir auch Fallbesprechungen machen werden«, erklärt Frau Dr. Brigitte Schwalbe, Leitende Ärztin der Interdisziplinären Rettungsstelle und Notaufnahme.

Als Mitbegründerin des Ethikkomitees der DRK Kliniken setzt sie sich seit Anfang 2003 mit ihren 12 Mitstreiterinnen und Mitstreitern für die Integration von professionell begleiteter Ethikberatung in den Klinikalltag ein. »Angefangen haben wir als Laienspieltruppe. Wir hatten alle eine Vorstellung von Ethik, aber waren nicht ausgebildet.«

Die Geschäftsführung der DRK Kliniken entschied sich daher für eine professionelle Beratung und engagierte zwei Experten. Der Berufsethiker Norbert Steinkamp und der Jurist Prof. Dr. Christian Dierks unterstützen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dabei, die Grundstruktur des Ethikkomitees der DRK Kliniken einzurichten.

Norbert Steinkamp ist von der Abteilung Ethik, Philosophie und Geschichte der Medizin der Universität Nijmegen in den Niederlanden und unterstützt Organisationen im Gesundheitswesen beim Aufbau von Klinischen Ethikkomitees. Mit seinem Kollegen Bert Gordijn hat er das klinischethische Interaktionsmodell erarbeitet. Dabei wird die Ausarbeitung von ethischen Leitlinien auf der organisatorischen Ebene mit der praxisnahen Fallbesprechung verbunden. Steinkamp und Gordijn sind überzeugt, dass die Bewältigung ethischer Fragestellungen am besten funktioniert, wenn Mitarbeiter aktiv in den Prozess mit einbezogen werden.

Die Fallbesprechungen werden von so genannten Moderatoren durchgeführt. »Diese haben wir dann hier in den DRK Kliniken ausbilden lassen.« Frau Dr. Schwalbe und Herr Lorenzen übernehmen die Moderationen für den Standort Westend. Ihre Aufgabe ist es, die Teambesprechung zu leiten und die ethischen Unsicherheiten aufzuzeigen. Doch die Nachfrage nach Fallbesprechungen ist noch gering. »Hier im Westend sind es nur drei bis vier im Jahr. Das finde ich zu wenig.« In Köpenick ist die Zahl der Fallbesprechungen höher, an anderen Standorten wiederum hat noch keine einzige stattgefunden. Die geringe Nachfrage nach der direkten klinischen Beratung kennt auch Winfried Böttler. »Wir haben im Jahr fünf bis sechs direkte Anfragen. Dabei handelt es sich meistens um Fälle, bei denen der Patient nicht einwilligungsfähig ist.« Doch Prof. Dr. Vollmann betont, dass die geringe Nachfrage nach Fallbesprechungen nicht nur negativ gesehen werden müsse. Es sei auch wichtig, die Wirkungskreise zu sehen, die dadurch entstehen. Jede Fallbesprechung wird im Ethikkomitee nachbereitet und bietet eine Grundlage für die Ausarbeitung der Leitlinien. Somit er reicht eine ethische Entscheidung nicht nur direkt vom Fall Betroffene, sondern kann auch als Grundlage für zukünftige Fälle dienen.


Auch die positiven Rückmeldungen der Ärztinnen und Ärzte zeigen, dass die Nachfrage nach professioneller Ethikberatung vorhanden ist. Dies unterstreichen auch die Zahlen von Dr. Andrea Dörries. Sie führte Studien durch, die die genaue Anzahl der klinischen Formen der Ethikberatung maßen. Im Jahr2005hatten insgesamt 10,6% der Krankenhäuser ein Klinisches Ethikkomitee, 77 befanden sich im Aufbau. Vergleicht man aus heutiger Sicht die An zahl der Klinischen Ethikkomitees mit der aus dem Jahr2000, so ist ein immenser Anstieg zu verzeichnen.

Ethik versus Monethik

Der wachsende Qualitätswettbewerb unter den Krankenhäusern und der damit verbundene Trend zu Qualitätszertifizierung ist ein Grund dafür. Die Einführung eines Klinischen Ethikkomitees ist oftmals Voraussetzung, das Siegel zu erhalten. Es birgt aber gleichzeitig die Gefahr, dass die Einführung eines Ethikkomitees lediglich als zu überwindende Hürde auf dem Weg zum eigentlichen Ziel – dem Zertifikat – verfolgt wird, ohne dass es durch das genuine Interesse der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter getragen wird. Dies hat in der Vergangenheit häufig zu Scheinexistenzen geführt. Doch darf man hier keine verallgemeinernde Kausalität unterstellen. Durch den Zertifizierungsprozess wurde eine nennenswerte Zahl an Ethikkomitees implementiert, die authentisch arbeiten. Ein Beispiel sind die DRK Kliniken Berlin. Um eine Joint Commission Zertifizierung zu erhalten, gründeten sie ein Klinisches Ethikkomitee. Für die erfolgreiche Einführung haben dann maßgeblich der Bedarf und das Interesse der Mitarbeiter sowie der Geschäftsführung beigetragen.

Wenn eine Seite hingegen einer Implementierung negativ gegenüber steht, so ist die Verwirklichung der professionellen Ethikberatung sehr schwierig. Von Seiten der Geschäftsführung wird oftmals die Finanzierung als Hindernis genannt. Dies weiß auch Elvira Backhaus. Sie kämpft seit längerem für die Einführung eines Klinischen Ethikkomitees im Franziskus-Krankenhaus.

Als erfahrene Pflegeschwester begann sie mit 53 Jahren ein Fernstudium in Beratung für Ethik im Gesundheitswesen. Im letzten Jahr eröffnete Sie dann das Ethik-Café. Alle drei Monate lädt sie ein, über ethische Probleme zu reden und sich auszutauschen. »Oftmals gebe ich ein Thema vor, dass die Kollegen sich vorbereiten können, welche Fragen sie stellen wollen.« Der Zulauf der Ärzteschaft ist gering. Es sind die Krankenschwestern, Ordensschwestern und auch Mitarbeiter aus der Verwaltung, die sich mit ethischen Problemen auseinandersetzen wollen.

Die Hoffnung, dass irgendwann sogar die Technik und die Küche sich für ethische Fragestellungen interessieren und externe Impulse liefern, gibt sie nicht auf. »Ich denke, dass wenn man es von unten aufrollt, die Mitarbeiter den Bedarf erkennen und sie dann ein Ethikkomitee fordern. Einfacher wäre es, wenn es von der Geschäftsleitung ausgeht. Aber ich denke, es geht auch so, es dauert nur länger.«

Wenn die Unterstützung der Geschäftsführung vorhanden ist, kann ein Klinisches Ethikkomitee eine Stütze für jeden Arzt sein. Doch die Priorität der professionellen Ethikberatung im klinischen Alltag ist noch nicht hoch angesetzt. Dass Ärzte einen hohen Zeitdruck und große Arbeitsbelastung haben, ist bekannt und somit scheint es für sie schwierig, viel Zeit für ethische Reflektion einzuplanen. Aber: »Die Verteilung von begrenzter Zeit ist eine Werteentscheidung«, sagt Prof. Dr. Vollmann. »Zeit ist eine normative Größe. Wenn Sie die 100% setzen, dann liegt es an Ihnen, nach welchen Prioritäten sie diese verteilen.«

Literaturempfehlung:
Dörries A, Neitzke G, Simon A, Vollmann J (Hrsg): Klinische Ethikberatung. Ein Praxisbuch. ISBN: 3-17-019841-6

Weitere Informationen: http://www.aem-online.de/