Kultur als Kompetenz

Kulturelle Barrieren und Sprachprobleme überwinden

Jeder vierte Berliner hat keinen deutschen Pass, ist Aussiedler, stammt aus einer binationalen Familie oder spricht  nicht Deutsch als Herkunftssprache. In den Gesundheitsberufen bildet sich diese Quote aber in keiner Weise ab. In der Praxis ist die Folge oft falsche, zu viel oder zu wenig Versorgung.

„Sind sie sich darüber im Klaren, dass Sie Ihre Frau und Ihren Sohn umgebracht haben?“ Völlig emotionslos übersetzt Danuta Kowalski in einer Berliner Klinik die Frage des Psychiaters in ihre Muttersprache. Der Patient, ein polnischer Familienvater ohne ausreichende Deutschkenntnisse, hatte schuldhaft einen Autounfall verursacht, bei dem seine Frau und sein jüngerer Sohn ums Leben kamen. Nun steht er vor der Entlassung und der Arzt will mit der Konfrontation testen, ob er schon stabil genug ist, um nach Hause gehen zu können. Eigentlich sollte der ältere, 17-jährige Sohn für seinen Vater übersetzen. Der war aber froh, dass die Klinik dann doch die Dolmetscherin bestellte.

Die Rollen müssen stimmen

„Das sind schwierige Situationen in meinem Job und dann ist es besonders wichtig, ganz neutral zu sein und darauf zu achten, dass die Rollen stimmen“, sagt Danuta Kowalski, „dass der Arzt oder Patient nicht mit mir, sondern mit dem jeweils anderen spricht.“

Professionelle interkulturelle Kompetenz und bloße Zweisprachigkeit sind nicht das Gleiche. „Menschen mit Migrationshintergrund werden häufig anders krank“, erklärt Arif Ünal, der das Gesundheitszentrum für Migranten in Köln leitet. In manchen Kulturen gelte chronische Erkrankung als Schicksal oder verdientes Leid. „Das erschwert dann die aktive Mitarbeit von Patienten“, so der Sozialarbeiter.

Interkulturelle Kompetenz als Chance für mehr Qualität

Angesichts steigender Bevölkerungsanteile mit Migrationshintergrund erkennen auch Berliner Gesundheitseinrichtungen, dass in mehr interkultureller Kompetenz eine Chance für mehr Qualität steckt. Allein die Krankenhäuser schätzen, einer Erhebung der Senatsverwaltung aus dem Jahr 2005 zufolge, dass durchschnittlich 5 Prozent ihrer Patienten sich gar nicht oder nur sehr eingeschränkt auf Deutsch verständigen können. Umgerechnet auf alle stationären Fälle sind das über 34.000 Patienten pro Jahr.

Problembewusstsein ist immerhin vorhanden. Bislang setzen die Kliniken auf unterschiedliche Strategien. Gerade wenn Haftungsfragen relevant sind, etwa bei bevorstehenden Operationen, ist es unerlässlich, dass ein Patient versteht, was mit ihm geschieht. Dann wird meistens ein externer Dolmetscher hinzugeholt. Im Alltag behilft man sich, wie die Senatsstudie zeigt, häufig auch mit fremdsprachigem Personal aus dem eigenen Haus. Externe wie interne Übersetzer verstehen nicht zwingend etwas von Medizin. Ob die Lösung bei komplizierten medizinischen Sachverhalten, etwa bei einer Krebstherapie, ausreichend ist, bleibt fraglich.

Der  Gemeindedolmetscherdienst (www.gemeindedolmetscher.de) ist hier eine gute Ergänzung. Im vergangenen Jahr wurde er mehr als 1.500 mal angefordert, allerdings nicht nur im Gesundheitssektor, sondern auch in Sozial- und Jugendhilfeangelegenheiten.

Fehlbehandlung und Missverständnisse

Auch Danuta Kowalski ist überzeugt, dass es eigentlich mehr als genug zu tun gäbe. „Aber leider werden Dolmetscher oft nur in verfahrenen Situationen angefordert. Dabei ließen sich mit ihnen Fehlbehandlungen oder langwierige Missverständnisse vermeiden und dadurch Zeit und Geld sparen“, sagt sie.

Die Gründe dafür, dass Bedarf und Nachfrage auseinander klaffen, sind vielfältig. Zum einen ist oft die Kostenübernahme nicht geklärt. Dabei stellen die überwiegend freiberuflichen Dolmetscher derzeit lediglich 25 Euro pro 45-minütigem Einsatz inklusive Vorgespräch und Nachbereitung in Rechnung. Hinzu kommt eine Anfahrtspauschale von 10 Euro. Ausschlaggebend ist aber vor allem, dass die Entscheidungsträger häufig einen Bedarf nicht anerkennen. Dabei gibt es nach Angaben von Gesundheit Berlin e.V., dem Projektträger, auch positive Beispiele: Das Immanuel-Krankenhaus, das Evangelische Krankenhaus Königin Elisabeth Herzberge und einige Vivantes-Häuser fordern den Dienst regelmäßig an.

Ein weiteres Problem ist eine gewisse Erosion im Dolmetscherpool. Von den ursprünglich rund 80 ausgebildeten Fachkräften sind noch 50 aktiv dabei. Eine Qualifizierung weiterer Gemeindedolmetscher ist derzeit nicht möglich, weil die geförderte Projektphase der Ausbildung 2005 endete.

Danuta Kowalski gehörte damals dazu. Sie selbst stammt aus der Großstadt Zielona Góra und lernte Deutsch schon in der Schule. Später arbeitete sie für eine deutsche Firma als kaufmännische Angestellte. So kam sie 1994 nach Berlin und heiratete. Als ihre Firma ihr wegen Umstrukturierungen kündigte, war sie lange Zeit arbeitslos. Dann las sie von dem Projekt in einer Zeitung. Die Ausbildung dauerte sechs Monate und umfasste medizinische, psychologische sowie sozial- und ausländerrechtliche Grundlagen. Auch ein Praktikum gehörte dazu.

Heute arbeitet die 38-Jährige vor allem für Landsleute, die nach Berlin kommen, um sich hier eine neue Existenz aufzubauen. Viele Polen sehen darin eine Chance für mehr wirtschaftlichen Wohlstand. „Dann reisen ganze Familien ein, haben Probleme mit dem neuen System, sprechen nicht ausreichend Deutsch oder verfallen in Depressionen“, erklärt sie. Ihre Einsätze absolviert sie vorwiegend im psychiatrischen Bereich.

Sitten, Erwartungen und Bedürfnisse

Türken und Polen stellen die größten Einwanderergruppen in der Stadt. Aber Berlin ist eine multikulturelle Stadt mit über 180 Nationalitäten. Entsprechend vielfältig sind die Sitten, Erwartungen und Bedürfnisse von Patienten mit Migrationshintergrund. Kliniken mit hohem Migrantenanteil reagieren, etwa indem sie neben der christlichen Krankenhauskapelle auch einen muslimischen Gebetsraum bereithalten oder religiöse Vorschriften im Speiseplan berücksichtigen. Rund drei Viertel der Krankenhäuser erfassen laut Senatsbefragung migrationsbezogene Daten, bis hin zur Unterscheidung in Staatsangehörigkeit und Sprache. Auch einige Patientenselbsthilfegruppen wie die Rheuma-Liga Berlin oder die Aidshilfe haben spezielle Angebote, die sich an Migranten wenden.

Interkulturelle Kompetenz in die Gesundheitsberufe

Wer sich interkulturelle Kompetenz auf die Fahnen schreibt, sollte aber nicht nur Klienten und Patienten nicht-deutscher Herkunft mit offenen Armen empfangen, sondern auch sein Team für Migranten öffnen. Genau dafür wirbt „Active Health“, ein Projekt, das die Berliner Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit in Kooperation mit Gesundheit Berlin und dem Senat initiiert hat. Der Personalanteil von Pflegekräften, Ärzten, Therapeutinnen und anderen Fachleuten nichtdeutscher Herkunftssprache soll mittelfristig erhöht werden, denn in der Regel sind sie am OP-Tisch, im Labor oder als Ergotherapeut noch immer Exoten.

„Das liegt daran, dass qualifizierte Schulabgänger mit Migrationshintergrund eher ein Studium anstreben, als eine Fachausbildung im Gesundheitswesen zu machen“, glaubt Ingrid Papies-Winkler von der Plan- und Leitstelle Gesundheit des Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg. Die Abgangsquote ausländischer Kinder mit Abitur beträgt ohnehin nur um die 15 Prozent, während ein Drittel der deutschen Kinder die Schule mit Abitur verlassen.

Interkulturelle Öffnung als Querschnittsthema

Die Politologin gehört zum Urgestein der migrationsspezifischen Gesundheitsförderung in Berlin. „Die interkulturelle Öffnung der Berliner Verwaltung ging vor über zehn Jahren von unserem Bezirk aus“, erzählt sie. Nach dem Vorbild des Ethno-medizinischen Zentrums in Hannover entwickelte der Bezirk Mitte der neunziger Jahre mit vorhandenen Anbietern ein „Interkulturelles Gesundheitsnetzwerk“, ermittelte den konkreten Bedarf und machte die interkulturelle Öffnung zum Querschnittsthema. Fortan tauchte das Netzwerk auch in öffentlichen Berichten auf, die Perspektive von Migranten rückte bei Entscheidungen auf Bezirksebene verstärkt ins Blickfeld.

Zugang noch immer problematisch

Trotz jahrelanger Pionierarbeit sieht Papies-Winkler weiterhin einen Riesenbedarf: „Der Zugang zu bestimmten Versorgungsbereichen ist für Migranten noch immer problematisch“, sagt sie. Das liege an Berührungsängsten in den Einrichtungen, unterentwickelten Informationssystemen und zu wenig migrationsspezifisch qualifizierten Therapeuten. Einrichtungen, die komplett für die jeweiligen Communities arbeiten, will sie aber nicht. „Wir brauchen kein türkisches Krankenhaus“, so Papies-Winkler, „sondern einen interkulturellen Ansatz in Gesundheit und Pflege“. Bei den ambulanten Pflegediensten habe das in Kreuzberg bereits der Markt geregelt.

Mit „Active Health“ sollen nun Migranten stärker als Akteure in das Gesundheitssystem eingebunden werden. Denn Übersetzer, da sind sich alle Fachleute einig, sind immer nur die zweitbeste Lösung. Wenn Therapeuten und Beraterinnen selbst muttersprachlich sind, erleichtert das die Verständigung und die Behandlung.

Vor allem sollen Jugendliche aus Einwandererfamilien motiviert werden, sich aktiv um eine Ausbildung in einem Gesundheitsberuf zu bemühen. Dazu dient unter anderem eine Informationskampagne (www.gesunde-perspektive.de) und ein Jobpatenprogramm. Weil Kinder aus Migrantenfamilien sich bei ihrer Berufswahl eher an Vorbildern orientieren als an herkömmlichen Berufsinformationen, geben Fachkräfte aus dem Gesundheitswesen, die selbst einen Migrationshintergrund haben, ihre Erfahrungen persönlich an Interessierte oder Schulklassen weiter.

Alarmierender Fachkräftemangel

Damit soll einer Entwicklung entgegengewirkt werden, die auch angesichts des sich abzeichnenden Fachkräftemangels alarmierend ist. Denn der Anteil junger Migranten an vielen Ausbildungsberufen ist seit Jahren rückläufig. Die Ausbildungsquote von Arzthelferinnen mit Migrationshintergrund halbierte sich zum Beispiel zwischen 1995 und 2005 von 17,6 auf 8,6 Prozent. Über sämtliche Gesundheitsfachberufe verteilt erreichte der Anteil von Migranten-Fachschülern im Schuljahr 2006/2007 sogar nur 3,5 Prozent.

Wichtig ist aber auch, diesen Jugendlichen ihre Jobperspektive vor Augen zu führen. Die dürfte gut sein, denn chronische Krankheiten und der demografische Wandel machen vor Berlinerinnen und Berlinern mit türkischer, arabischer oder osteuropäischer Herkunft nicht Halt. Viele dieser Patienten bevorzugen Therapeuten und Pflegekräfte, die sie verstehen und die ihre Sprache sprechen – gerade im Alter.

Auch für Danuta Kowalski hat sich eine neue Perspektive eröffnet. Der Senat hat das als Modellprojekt gestartete Angebot des Gemeindedolmetscherdienstes zum Regelangebot gemacht. Seit zu den Einsätzen im Gesundheitsbereich nun auch verstärkt Anfragen von Beratungsstellen und aus der Jugendhilfe kommen, ist die Zukunft des Projekts wieder planbarer geworden. Die 38-Jährige hat nun eine feste 30-Stunden-Stelle und muss sich nicht mehr als Selbstständige durchschlagen. Denn allein von den freiberuflichen Einkünften als Gemeindedolmetscher zu leben, haben nur wenige der Fachkräfte geschafft.