Das POLIKUM Berlin-Friedenau – Seit vier Jahren sind medizinische Versorgungszentren (MVZ) zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassen. Seitdem eröffnen laufend neue Zentren und MVZ-Ketten. Gesprochen wird vor allem über die Vorteile für Patienten und fürs gesamte Gesundheitssystem, über das Aufbrechen festgefahrener Strukturen. Aber wie empfinden die Mediziner eigentlich das Arbeiten in einem MVZ? Was sind die Unterschiede zu traditionellen Jobs? Bei einem Besuch im Polikum Berlin-Friedenau, dem größten MVZ in Deutschland, machten die Ärzte einen sehr zufriedenen Eindruck.
Während nebenan im Krankenhaus die Ärzte selbst beim Mittagessen in weiß sitzen, kommt der Kardiologe des „Polikums“ ganz in schwarz zur Arbeit. Schwarze Hose, schwarzer Kapuzenpulli, schwarzes Wollsakko. Nicht nur bei den Farben geben sich die Ärzte des größten Medizinischen Versorgungszentrums Deutschlands lockerer als traditionelle Kollegen. Auch im Umgang miteinander.
Hier zu Hause
Gleich beim ersten Gang durchs Haus fällt auf, dass sich die rund 50 Ärzte duzen und herzlich grüßen. Sie scheinen sich gut zu verstehen. Es wirkt glaubhaft, wie positiv sie vom Betriebsklima sprechen, wie legendär die gemeinsamen Sommer- und Weihnachtspartys seien und der jährliche gemeinsame Staffel-Lauf. Hier gebe es keine Eifersüchteleien zwischen den Kollegen. Ganz anders als „draußen“, wie einer der Hausärzte sagt. Nicht zufällig scheint da der Versprecher des Herzkatheter-Spezialisten Marc Oliver Grad, der einmal „hier zu Hause“ sagt. „Äh, ich meine: hier im Polikum.“
Grad arbeitet in Berlin-Friedenau, dem größten der bislang drei Standorte des Polikum-Unternehmens. Eröffnet wurde das MVZ im Oktober 2005. Inzwischen arbeiten hier Allgemein-Mediziner, Internisten, Diabetologen, Augen-, HNO-, Haut- und Kinderärzte, Gastroenterologen, Chirurgen, Anästhesisten und auch Homöopathen, Naturheilkundler und Physiotherapeuten. Alle sind angestellt. Sie haben dafür zum Teil Praxen aufgegeben oder Oberarztstellen im Krankenhaus.
Ein bisschen wie ein Krankenhaus für ambulante Medizin, nur persönlicher
Bereut haben Sie es offenbar nicht. „Hier gibt es nicht diese verkrusteten Hierarchien, die man oft in Krankenhäusern hat“, sagt Grad. „Der entscheidende Unterschied zu anderen Arbeitsplätzen ist der Austausch untereinander und das interdisziplinäre Arbeiten.“ Wenn es zum Beispiel bei einem seiner Patienten nach einer Herzschrittmacher-Operation zu übermäßiger Narbenbildung kommt, schickt er ihn gleich zur Dermatologin eine Etage höher und bespricht mit ihr die weitere Behandlung. „Es ist ein bisschen wie ein kleines Krankenhaus für ambulante Medizin, nur persönlicher“, sagt Grad.
„Ich hatte mich vor der Schmalspurmedizin gescheut, wollte ganzheitlicher arbeiten mit Kollegen anderer Fachrichtungen“, erklärt er seinen Wechsel von der Oberarztstelle am Unfallkrankenhaus Berlin-Marzahn zum Polikum. Auch die „exotische Arbeitsbelastung“ dort war ein Grund zu gehen. Im Polikum hat Grad eine 80-Prozent-Stelle, einen Tag in der Woche arbeitet er bei seinem alten Arbeitgeber. „Anfangs war das eine Hintertür für mich, falls es mir hier nicht gefallen würde“, sagt er. „Aber die brauch ich nun nicht mehr.“ Er behalte die 20-Prozent-Stelle in der Klinik aber, um in der Akutmedizin fit zu bleiben. Er setzt dort vor allem Herzkatheter. Eine ideale Mischung für ihn.
Konzentration auf die Medizin – kein Streit mit den Kassen
Eine eigene Praxis schreckte ihn vor allem wegen des wirtschaftlichen Risikos: „Ich schlafe schlecht mit Schulden“ – für einen Facharztsitz in Berlin hätte er an die 250.000 Euro zahlen müssen. „Zum anderen belaste ich mich nicht gern mit geschäftlichen Dingen.“ Die erledigt nun die Zentrale für ihn und seine Kollegen. Sie führt Personalgespräche, stellt Arzthelferinnen ein, organisiert Urlaubsvertretungen, den Einkauf und die Gerätewartung, kümmert sich um die Computersysteme, die komplette Verwaltung und bietet juristischen Beistand. Außerdem betreibt sie noch ein eigenes Labor im Haus.
Die Mediziner können sich auf die Medizin konzentrieren.
Das war das Hauptargument für den Hausarzt Hans-Joachim Freist, mit Anfang 60 seine Praxis zugunsten einer Stelle im Polikum aufzugeben. „Sehr erfreulich“ sei für ihn, dass er nun nicht mehr viel mit der Bürokratie und dem Streit mit den Kassen zu tun habe. Seine Wochenarbeitszeit habe er von rund 60 auf nun 40 Stunden reduzieren können. Der Nachteil sei nur, dass man eben nicht mehr alles selbst entscheiden könne wie ein Freiberufler.
Dafür könnte er in Teilzeit arbeiten, wenn er wollte. Die Öffnungszeiten von acht bis 20 Uhr (Hausärzte von sieben bis 21 Uhr) teilen sich in zwei Schichten. Bald soll der Samstag hinzu kommen.
Austausch an der Espressomaschine
Für Einzelkämpfer ist so ein MVZ freilich nichts. Umso mehr aber für Ärzte, die sich gern fachlich austauschen und im Team arbeiten, sagt Diego Schmidt, der stellvertretende ärztliche Direktor des Polikums. „Das interdisziplinäre Arbeiten motiviert uns – und ist zudem ein großer Vorteil für die Patienten.“ Täglich beim Schichtwechsel um 14 Uhr treffen sich die Ärzte zur Vor- und Nachbereitung, wöchentlich gibt es ein organisatorisches und ein medizinisches Treffen, bei dem die Kollegen von neuen Entwicklungen erzählen. Ein bis zweimal im Monat kommen sie zusammen, um Fälle ausführlicher zu besprechen. Und natürlich tauscht man sich auch auf dem Flur, am Telefon, an der Espressomaschine oder im Computerraum aus.
Im Zweifelsfall einen Kollegen anrufen
Ein zentraler Punkt, der medizinische Versorgungszentren effizienter macht im Vergleich zu Einzelpraxen: die gemeinsame Datenverarbeitung. Im Polikum gibt es die digitale Patientenakte, in die – nach Zustimmung der Patienten – alle Ärzte im Haus Einsicht haben. Darunter zum Beispiel auch Röntgenbilder. So sparen die Ärzte nicht nur Zeit zum Befragen und Eintragen und vermeiden teure Doppeluntersuchungen, sondern sehen auch sofort, welche Medikamente Kollegen im Haus verschrieben haben. So können sie Mehrfach-Verschreibungen und Präparate vermeiden, die mit den anderen kollidieren.
Ein Vorteil besonders für chronisch Kranke und multimorbide Patienten ist auch der gemeinsame elektronische Terminkalender, der die Besuche bei verschiedenen Fachärzten koordiniert und lange Wartenzeiten vermeidet. „Für uns ist es toll, wie schnell wir im Rechner alle Informationen finden, ohne erst Papierakten suchen zu müssen“, sagt Herzspezialist Grad.
Die Ärzte überlegen sich aber auch genauer, was sie schreiben, wenn sie wissen, dass alle darauf zugreifen können, glaubt Felix Cornelius, verantwortlich für die Strategie in der Geschäftsführung der Polikum-Gruppe. „Im Zweifelsfall rufen sie noch schnell mal einen Kollegen an und bitten ihn um seine Meinung zu einer Diagnose oder einer Therapie, um sicher zu gehen.“ Diese Transparenz erfordere allerdings ein Umdenken bei allen Beteiligten.
Für sehr fruchtbar hält Cornelius die Mischung aus älteren erfahrenen und jungen Ärzten. „Die können prima voneinander lernen.“ Er empfindet seine eigene Arbeit als einen Traumjob und schwärmt von der außergewöhnlich guten Unternehmenskultur. „Eine super Stimmung“, sagt er mehrmals, die auch mit dem „vorbildlichen Charakter“ des Firmengründers Wolfram Otto zu tun habe. „Wir sind alle sehr offen miteinander, erzählen im Zweifel eher zu viel als zu wenig, arbeiten uns zu und nicht gegeneinander.“
Weiterbildungspunkte unterm Dach
Eine große Hilfe sind nach Ansicht des Kardiologen Grad die Präventionsangebote im Haus – ein Schwerpunkt des Unternehmens. Über „Polikum aktiv“, eine Tochter der Polikum-Gruppe, kann man nicht nur Yoga-Stunden oder Rückengymnastik buchen, sondern auch Raucherentwöhnungskurse. „Wenn ich meine Patienten im Krankenhaus gebeten habe, mit dem Rauchen aufzuhören, ist oft nichts daraus geworden.“ Im MVZ aber nehme er sie an der Hand, begleite sie zur Rezeption im Erdgeschoss und zeige ihnen, wie und wo sie sich zu einem solchen Kurs anmelden können. „Das nimmt die oft irrationalen Schwellenängste.“ Tatsächlich haben danach viele seiner Patienten mit dem Rauchen aufgehört.
Nicht nur für die „Kunden“, auch für die Ärzte selbst gibt es Seminare im Haus. Das „Polikum Institut“, eine weitere Tochter der Polikum-Gruppe, bietet Fortbildungen in den hellen Räumen unterm Dach des MVZ an. So müssen die Mediziner nicht weit reisen, um ihre vorgeschriebenen Weiterbildungspunkte zu sammeln.
Neben dem Schulungszentrum im vierten Stock liegen Küche und Aufenthaltsraum der Mitarbeiter des Polikums. Hier können sich die Ärzte einen leckeren Latte Macchiato aus der Maschine holen und sich nebenan im Computerraum mit ihrer Karte direkt ins System einloggen, ohne erst zeitaufwändig einen Rechner hochfahren zu müssen.
Die Dachetage ist so modern und geschmackvoll-schlicht eingerichtet wie das ganze Gebäude – ein Alt- und ein Neubau direkt neben dem Auguste-Viktoria-Krankenhaus (Vivantes). Zwar ist auch das Polikum komplett weiß gestrichen, aber eine zu kalte Klinik-Atmosphäre verhindern der hellbraune Teppichboden, Holz und Details in den Farben der Marke Polikum: orange und mint-grün.
Was die Ärzte im Polikum verdienen, verrät das Unternehmen nicht. „Prinzipiell bieten wir jedem ein attraktives Grundgehalt und zusätzliche leistungsbezogene Boni-Modelle“, sagt Pressesprecherin Carola Bräuer. Die Höhe ist Verhandlungssache.
Konkurrenten und Übergangene
Die MVZ-Ärzte haben nicht nur Freunde. Gegner sind einige Niedergelassene, die die Konkurrenz fürchten, aber auch Kassenärztliche Vereinigungen (KV), die ängstlich zusehen, wie das Polikum und andere große Versorgungszentren mit immer mehr Krankenkassen Direktverträge abschließen.
Kritiker sehen zum Beispiel schon in der Angestelltenposition der Ärzte eine Gefahr. Burkhard Bratzke zum Beispiel, Vorstandsmitglied der KV Berlin: „In der klassischen Einzelpraxis haftet der Arzt für seinen Fehler, der geschädigte Patient kennt seinen ‚Gegner’. In einem ‚Polikum’ richtet sich der Anspruch gegen eine Institution mit deutlich höheren Finanzmitteln. Der geschädigte Patient wird es schwerer haben, Ansprüche durchzusetzen“, sagt Bratzke, der als Hautarzt selbst ein kleines MVZ betreibt. „Für den angestellten Arzt ist es angenehm und leicht, sich hinter seiner Institution zu verstecken. Er fühlt keine so unmittelbare und direkte Verantwortung für den Patienten wie der Einzelarzt.“
Dann dürfte man allerdings auch keinem Krankenhaus-Angestellten trauen.