Was nicht nur Krankenkassen im Gurkenregal lernen können

Gesundheit, heißt es oftmals, sei keine Ware. Und viele, die im Denken weniger geübt sind, halten dies für ein Argument, unser Gesundheitssystem von Staats wegen öffentlich-rechtlich zu organisieren. Langsam nur bricht sich die Erkenntnis Bahn, dass es um unsere Gesundheit ebenso bestellt ist, wie um unsere Sattheit. Auch die ist zwar keine Ware. Doch um sie herzustellen – um also satt zu werden – bedürfen wir vielerlei Waren und Dienstleistungen. Bauern müssen uns die nötigen Lebensmittel liefern, Köche bereiten sie zu und Kellner servieren sie oder wir finden unser tägliches Brot in den Regalen der Geschäfte.

Ein Blick hinter die Kulissen unserer Gesundheitsdienstleistungen, also ein Blick auf diejenigen Aktivitäten, die uns im Krankheitsfalle helfen, wieder gesund zu werden, erweist für unser Land Erstaunliches: Der private Verbraucher beispielsweise einer Gewürzgurke genießt weit intensiveren rechtlichen Schutz als der öffentlich-rechtlich rundumverwaltete Verbraucher einer Gesundheitsdienstleistung. Denn der gesetzlich versicherte Patient wird nur öffentlich-rechtlich versorgt, der private Gurkenkäufer hingegen wird persönlich ernst genommen. Durch ein wenig Nachdenken lässt sich daraus einiges lernen.

Der Supermarkt

Begeben Sie sich zur Überprüfung der These in den nächstgelegenen Supermarkt. Das Etikett eines jeden Gewürzgurkenglases weist peinlich genau aus, was sein Inhalt ist. Neben seinen Ingredienzien finden wir auf dem Glas alle relevanten Angaben dazu, wie viel das Glas wiegt, wie viel davon auf die Flüssigkeit und wie viel auf die Gurken entfällt. Ergänzt werden diese Informationen über Nachrichten dazu, wer der Hersteller des Glases ist, wo er produziert und wann genau er diese Einheit abgefüllt hat. Sollten Sie als Gurkenfreund also nach dem Öffnen des Glases Inhaltsstoffe finden, die Ihnen missfallen, werden Sie stets in der Lage sein, jede einzelne Charge des Produktes zurückzuverfolgen. Über die Herstellerdokumentation wird Ihnen möglich sein, sogar den einzelnen Mitarbeiter ausfindig zu machen, der dieses Glas verantwortlich abfüllte.

Sollten der Hersteller und/oder sein Mitarbeiter bei alledem statt 370 gr. Einwaage nur 368 gr. verpackt haben, drohen ihnen lebensmittelrechtlich die schärfsten Sanktionen. Routinemäßig werden Hersteller und Abfüller sogar unangekündigt von Beamten aufgesucht. Maß- und Gewichtsangaben werden überprüft, Abweichungen hart geahndet. Dies erspart dem einzelnen Gurkenkäufer, zu Hause das Gewicht seines Gemüses im Einzelnen kontrollierend nachzuwiegen.

Doch mit all diesem Schutz des Verbrauchers gegenüber dem Hersteller sind seine Sicherheiten im Lebensmittelerwerb noch bei weitem nicht abschließend beschrieben. Auch der konkrete Verkäufer des konkreten Einmachglases ist dem Erwerber auf das Genaueste zu Deutlichkeit, Offenheit und Ehrlichkeit verpflichtet. Er muss sicherstellen, dass der Preis am Regal unter allen Umständen mit dem Preis seines gesamten Warenwirtschaftssystems identisch ist, damit der Käufer an der Kasse mit seinen grünen Gurken nicht das blaue Wunder erlebt. Mehr noch: Würde der Preis der Gurke an Regal oder Kasse nicht exakt übereinstimmen mit der Preisangabe auf der Werbewurfsendung, die zuletzt im Stadtviertel in alle Briefkästen gesteckt worden war, verhielte sich der Kaufmann schon wieder rechtswidrig.

Zu all diesen rechtlichen Absicherungen des Gurkenverbrauchers tritt zuallerletzt sein terminaler Schutz: Gefällt ihm der Hersteller nicht mehr, hat er sich über ihn geärgert, hatte dieser eine schlechte Presse oder wandelt sich sonst seine Meinung, so kann nichts und niemand den Gurkenfreund daran hindern, bei einem anderen Hersteller zuzugreifen. Er kann auch dem Verkäufer ausweichen und in einen anderen, günstigeren Laden gehen. Er kann sogar statt Gurken Pfifferlinge kaufen oder Blaukraut oder – gar nichts.

Wie traurig ist es demgegenüber doch um einen gesetzlich zwangsversicherten Patienten in Deutschland bestellt. Er kann nicht ausweichen. Arbeitet er, muss er sich in aller Regel pflichtversichern bei einer Krankenkassenbehörde. Schon mehr als 90% aller Deutschen müssen ihren Körper, ihre Gesundheit und – nicht selten – ihr Leben den Entscheidungen jener Körperschaften des öffentlichen Rechtes unterstellen, die ihnen derzeit 15,5% ihrer Einkünfte, also gut 2 Monate ihres Jahreseinkommens, als Zwangsbeitrag nehmen. Der ganz normale Arbeitnehmer, der ganz normale Rentner, der ganz normale Arbeitslose – sie alle haben keine Alternative: Gurken müssen sie nicht kaufen, die Sozialversicherungsleistungen ihrer Krankenkasse hingegen schon.

Doch selbst wenn der zwangsversicherte Deutsche dem Grunde nach willens ist, sich gegen die Kostenrisiken einer Krankheit zu versichern, so kann er doch den Preis dieses Gutes nicht mehr selber mitbestimmen. Bei Gurken kann er ja wählen zwischen teuren und billigen. In der gesetzlichen Krankenkassenlandschaft muss er aber allüberall einen Einheitspreis bezahlen. Das, was der Gesundheitsfonds ihm abfordert, ist geschuldet. Alternativen hat er nicht. Im Gegenteil: Will er die staatlichen Gesundheitsgurken nicht oder träumt er von alternativem medizinischen Blaukraut, dann droht ihm das Gesetz mit Gefängnis. Das Vorenthalten von Sozialbeiträgen ist eine Straftat, wie Raub, Erpressung, Totschlag, Vergewaltigung. Wenn, mag mancher sich fragen, die gesetzliche Krankenversicherung eine so gute Sache sei, wie es oftmals heißt, dann fällt schwer, zu verstehen, warum es des Strafrechtes bedarf, um die Teilnahme daran sicherzustellen.

Gesundheitsfond mit leerem Etikett

Doch nicht nur die Entscheidung, ob man überhaupt an diesem System teilnehme, und nicht nur die Mitbestimmung, welcher Preis angemessen sei, ist dem Patienten des Gesundheitswesens – anders als dem Gurkenesser – entzogen. Der zur Teilnahmen an diesem System Zwangsverpflichtete hat nicht einmal die Möglichkeit oder gar das Recht, über den Umfang der Gegenleistung für seine Lohneinbehalte mitzureden. Wäre der Gesundheitsfonds ein Einmachglas, so fänden wir dessen Etikett blank und leer. Denn der Inhalt dessen, was das System an Gesundheitsdienstleistungen liefert, variiert ununterbrochen.

Obgleich nämlich – unter Strafandrohung – der Beitragssatz politisch-administrativ bis auf die Stelle hinter dem Komma exakt bestimmt ist, weiß kein gesetzlich Zwangsversicherter, welche Therapie, welches Medikament, welche ärztliche Leistung, welcher krankenhäuslicher und pflegerischer Dienst ihm im Fall seiner Krankheit tatsächlich zukommen wird. Über die Inhalte seines Versicherungsschutzes wird er – anders als ein Gurkenkäufer – vollends im Unklaren gelassen. Ihm wird nicht erklärt, dass er für genau den und den Preis exakt so und so viel Gegenleistung erhalte. Anders als ein Amtsgericht, das den Händler wegen Betruges zu Haft und Schadensersatz verurteilt, wenn er seinem Kunden statt 370 gr. nur 368 gr. liefert, erklärt das Sozialgericht dem protestierenden Patienten im Streitfalle mit seiner Krankenkasse, dass er nur ein ausfüllungsbedürftiges sozialversicherungsrechtliches Rahmenrecht geltend machen kann, dessen konkreter Inhalt niemals genau feststehe. Erst die Krankenkasse lege seine Hilfsansprüche nach Maßgabe der Erkenntnisse von Medizinischen Diensten, Gemeinsamem Bundesausschuss, Qualitäts- und Wirtschaftlichkeitsstiftung, externen Sachverständigen oder sonst behördlich zu Höherem Berufenen fest.

Welche einstmalige Katze in welchem künftigen Sack der pflichtversicherte Patient mit seinem Zwangsbeitrag kauft, weiß er nie. Denn anders als der Gurkenabfüller steht der irgendwann zur medizinischen Entscheidung Berufene niemals lange im Voraus fest. Wer Gemüse kauft, darf alles wissen, wer seine Gesundheit, seinen Körper und sein Leben absichern muss, der hat zu vertrauen, dass alles schon von selbst seinen richtigen und rechten Weg gehen werde.

Gesundheit, hatten wir gehört, sei keine Ware. Die Leistungen, die sie uns erhalten und wiederherstellen, sind es dagegen sehr wohl. Es könnte ein Kulturvolk schmücken, die Gesundheit seiner Bürger mindestens ebenso ernst zu nehmen, wie eine Gewürzgurke.

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