Spielend süchtig – Wie die Tabakindustrie Kinder zu Kunden macht

Beitrag anlässlich des Weltnichterauchertages am 31. Mai 2008 | Interview mit Johannes Spatz

Die Tabakindustrie braucht neue Kunden – und setzt dabei auf Kinder und Jugendliche. Doch nicht nur die Werbung für Zigaretten kann zum Rauchen verführen, auch Süßwaren können ein Risiko sein. Schokoladen- und Kaugummizigaretten sind mehr als eine Leckerei oder ein Spielzeug für Kinder. Sie machen es wahrscheinlicher, dass ein Kind später zum Raucher wird. Deshalb setzt sich das Forum Rauchfrei für ein Verbot von Kinderzigaretten ein.

Herr Spatz, warum sind Kinder und Jugendliche so wichtig für die Tabakindustrie?

Sie brauchen die Kinder und Jugendlichen. Denn wenn sie nur bei den Erwachsenen werben, dann bekommen Sie keine Neukunden. Die Engländer sprechen von replacement: Sie müssen die Lücke, die durch den Tod von Menschen entsteht oder dadurch, dass sie mit dem Rauchen aufhören, auffüllen – und zwar mit Kindern und Jugendlichen. 80% der späteren Raucher haben als Kinder und Jugendliche damit angefangen. Es gibt Prognosen, nach denen die Tabakindustrie in zwanzig, dreißig Jahren nicht mehr genug Kunden hätte, wenn sie heute keine Jugendlichen mehr erreichte.
Die Tabakindustrie ködert Kinder. Sie sagen: »Wir müssen sie jung an den Haken kriegen und dann ein Leben lang.« (Tommie Sandefuhr, Geschäftsführer des Tabakkonzerns Brown & Williamson, Anfang 1990er; Anm. der Red.) Das ist die Strategie.

Warum rauchen Kinder überhaupt? Am Geschmack kann’s ja nicht liegen …

Kinder rauchen, weil es um sie herum zur Erwachsenenwelt gehört. Die Werbung für Zigaretten reflektiert Sehnsucht nach Abenteuer, suggeriert ein gesundes, schönes Leben mit Zigaretten. Und die Kinder und Jugendlichen denken: Wenn das Rauchen legal ist und öffentlich überall stattfindet, dann kann es ja auch gar nicht so schlimm sein. Sie wollen das nachmachen.

Wie hoch ist heute die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die rauchen?

In den 90er Jahren und Anfang 2000 haben bis zu 28% der Jugendlichen geraucht. Mittlerweile ist die Zahl auf rund 15% gesunken. Das ist ein Erfolg für die Bundesrepublik. Allerdings ist sie damit europaweit immer noch schlechter als das Mittelfeld.

Wie alt sind die Jugendlichen im Schnitt, wenn sie mit dem Rauchen anfangen?

Bundesweit liegt der Durchschnitt bei 13,5 Jahren, sowohl bei den Mädchen als auch bei den Jungen. Hier in Berlin liegt das Einstiegsalter schon bei 11,6 Jahren. In den 50er Jahren lag das Einstiegsalter bei den Frauen bei 23 Jahren, und bei den Männern bei 19 Jahren. Das ist also ein irrsinniger Umschwung.

Dann sind hier in Berlin die jugendlichen Raucher also deutlich jünger als bundesweit.

Berlin ist ein Hort der Tabaklobby. Hier finden Sie fast jede neue Serie von Tabakwerbung und zum Beispiel in Friedrichshain/ Kreuzberg eine besonders hohe Dichte von Tabakverkaufsstellen und Zigarettenautomaten in Kneipen. Pro Jahr werden hier 80 Milliarden Zigaretten produziert, das entspricht in etwa der Menge, die in der Bundesrepublik geraucht werden. Philipp Morris hat hier eine Fabrik, in der 60 Milliarden Zigaretten pro Jahr hergestellt werden, Reemtsma produziert hier 20 Milliarden. Der Deutsche Zigarettenverband sitzt in Berlin, außerdem hat British American Tobacco hier ein Hauptstadtbüro.

Auf welche Weise werden Kinder von der Tabakindustrie angesprochen?

Werbung ist sehr wichtig, weil sie bei den Jugendlichen wesentlich wirksamer ist als bei den Erwachsenen. Jedes Plakat, das angeblich nur für Erwachsene wirbt, ist auch eine Kinderwerbung. Wir haben in Hohenschönhausen 250 Kinder in Kindergärten befragt, standardisiert, mit Fragebogen, und mit standardisierten Bildern. Wir haben ihnen zum Beispiel eine Lagerfeuerszene von Marlboro vorgeführt, aber die Zigarette heraus retouchiert.
Wir haben die Kinder gefragt, wofür hier geworben wird: für ein Auto, für Spielzeug, Schokolade oder Zigaretten? Über 60% der Kinder wussten, dass sich die Werbung auf Zigaretten bezieht, sie kannten das. Sie nehmen das also schon sehr früh auf.

Welche Rolle spielt der Preis von Zigaretten dabei, Kinder zu Rauchern zu machen?

Die Tabakindustrie ist zunehmend in die unteren Preissegmente gegangen. Das ist Kinderwerbung. Denn das beste Mittel, um Kinder anzulocken, sind niedrige Preise. Wenn Sie dagegen die Preise um zehn Prozent anheben, haben sie 13% weniger Raucher bei Kindern.
Kinderzigaretten aus Schokolade oder Kaugummi sind doch zumindest eine gesündere Alternative, oder nicht?
Es ist keine Alternative, weil die Kinder mit den Schokoladenzigaretten ja schon sehr früh anfangen, weit vor dem durchschnittlichen Einstieg fürs Rauchen. Aber hier läuft das Gleiche ab: Die Kinder sehen Eltern, die rauchen, und sie wollen das auch. Mit diesen Kinderzigaretten imitieren sie das: Sie wollen rauchen wie die Erwachsenen.

Es geht den Kindern also nicht um leckere Schokolade oder Kaugummi, sondern um das Spiel mit der Zigarette. Was passiert denn bei diesem Spiel?

Die Kinder hantieren mit den Zigaretten und entwickeln eine Gestik, die die Erwachsenen beim Rauchen haben. Und diese Kinderzigaretten sehen ja auch aus wie richtige Zigaretten. Da ist zum Beispiel das Filterstück abgesetzt. Es gibt sogar solche Kaugummizigaretten, bei denen beim Reinpusten eine Rauchwolke entsteht.
Auch die Packungen von Kinderzigaretten sind denen echter Zigaretten nachempfunden: Sie sind zum Beispiel in Rot oder Blau gefertigt, wie Pal Mal wirbt, oder Sie finden Packungen, auf denen Kamele dargestellt sind. Es gibt sogar Packungen, auf denen die Steuermarke imitiert ist, das ist fast passgenau eine Zigarettenpackung. Und das ist damit auch intendiert.
Die Tabakindustrie könnte gegen diese Imitate ja prozessieren, aber sie macht nichts dagegen. Sie profitiert von diesem Kindermarketing.

Gibt es einen nachweisbaren Zusammenhang zwischen Spiel und dem späteren Rauchen?

Ja, dass Schokoladen- und Kaugummizigaretten für Kinder ein entsprechendes Risiko darstellen, ist auch wissenschaftlich nachgewiesen worden. Es gab dazu mehrere Untersuchungen. Zuletzt hat die Rochester Universität in den USA 2007 für eine Studie 25.000 Erwachsene befragt. Diejenigen unter ihnen, die als Kinder Kaugummi- oder Schokoladenzigaretten konsumiert hatten, trugen im Vergleich zu den anderen ein doppeltes Risiko, später zu Rauchern zu werden. Es ist relativ selten, dass man so ein eindeutiges Forschungsergebnis hat. Das hat auch dazu geführt, dass in vielen Ländern inzwischen der Vertrieb und auch die Produktion von Kinderzigaretten verboten ist.

In welchen Ländern ist das der Fall?

In der Europäischen Union sind es 15 Länder, dazu kommen weltweit auch Kanada und Australien. 2003 hat die EU außerdem eine Direktive herausgegeben, nach der diese Kinderzigaretten verboten werden sollen. Auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfiehlt das. Das Deutsche Krebsforschungszentrum und der Bundesverband der Verbraucherzentralen fordern ebenfalls ein Verbot der Kinderzigaretten.

Das »Forum Rauchfrei« hat im Herbst 2008 mehrere Handelsketten bzw. den Großhandel aufgefordert, den Vertrieb von Kinderzigaretten einzustellen. Wie waren die Reaktionen?

Die Metro AG ist nicht darauf eingegangen. Dafür haben aber Ketten wie Kaiser’s, Tengelmann AG, die Edeka-Gruppe und Woolworth innerhalb von 14 Tagen reagiert und zugesagt, dass sie die Produkte zwar nicht unmittelbar aus den Regalen nehmen, sie aber auch nicht mehr nachliefern werden.
Das ist jetzt ein halbes Jahr her. Ich persönlich habe in der Zwischenzeit bei Edeka diese Kinderzigaretten wieder gefunden. Die Verkäufer erzählten, sie seien ihnen geliefert worden. Die freiwillige Selbstverpflichtung ist also problematisch.

Was ist mit den Herstellern ?

Der Hauptproduzent in Deutschland ist Hitschler. Auch dieses Unternehmen haben wir angeschrieben und darum gebeten, sie möchten die Herstellung von Kinderzigaretten stoppen. Aber sie haben das abgelehnt. Außerdem würden sie den Begriff »Kinderzigaretten« nicht akzeptieren: Sie würden sie »Dicks« nennen.

Mit einem freiwilligen Verzicht auf Herstellung und Vertrieb kommt man also nicht wirklich weit. Und was tut die Politik?

Das Verbraucherministerium sieht es als eine Angelegenheit des Bundesgesundheitsministeriums. Frau Sabine Bätzing (SPD), die Drogenbeauftragte des Bundes, setzt auf einen freiwilligen Verzicht der Unternehmen. Und die Bundesregierung hat sich im letzten Jahr gegen ein Verbot ausgesprochen, mit der Begründung, dies sei ein massiver Eingriff in die Unternehmensfreiheit.

Johannes Spatz ist Mitbegründer & Sprecher des Forums Rauchfrei.