Nach der Reform ist vor der Reform – Der 27. September und die Gesundheitspolitik

Die gesundheitspolitischen Herausforderungen für die nächste Bundesregierung ergeben sich vor allem aus dem Zustand, in dem die bisherige Koalition das Gesundheitssystem hinterlassen wird. Und da sieht es leider nicht besonders gut aus. Schon heute ist erheblicher Korrekturbedarf für das »GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetzes« (GKV-WSG) zu sehen.

Die grundlegende Kritik der Krankenkassen am Gesundheitsfonds und an der Vereinheitlichung der Beitragssätze ist ja weitgehend bekannt. Die große Koalition ist jedoch noch nicht einmal ihrer selbstgesetzten Verpflichtung nachgekommen, wenigstens im ersten Jahr den Gesundheitsfonds mit 100% der kalkulierten Ausgaben zu decken, d.h. einen im Durchschnitt für alle Kassen auskömmlichen allgemeinen Beitragssatz festzulegen. Hier hat die Bundesregierung bereits den »Sündenfall« einer politischen Beitragssatz-Bestimmung begangen und damit politische Wünsche über die GKV-ökonomischen Realitäten gestellt.

Sie hat damit einen Zustand geschaffen, in dem bereits in diesem Jahr mehrere Kassen einen Zusatzbeitrag brauchen und andere ihn nur vermeiden können, weil sie ihre Rücklagen aufzehren. Die anderen Kassen üben sich im »politischen Hoffnungslauf« und wünschen sich für die nächste Wahlperiode eine Regierungsmehrheit, die sie entlastet und ihre finanziellen Spielräume wieder erweitert.

Einnahmeausfälle von mindestens drei Milliarden Euro

Hinzu kommt, dass der Gesundheitsfonds durch die Wirtschaftkrise und die zu erwartende höhere Arbeitslosigkeit schon für das Jahr 2009 Einnahmeausfälle in Höhe von mindestens drei Milliarden Euro zu verkraften hat. Diese schlagen zwar nicht sofort auf die Kassen durch, weil die Bundesregierung deren Zuweisungen aus dem Fonds durch Liquiditätshilfen stabil hält. Diese Darlehen müssen aber von den Kassen ab dem Jahr 2011 an den Bund zurückgezahlt werden. Und spätestens zu diesem Zeitpunkt wird die Finanzierung durch die Zusatzbeiträge nicht mehr ausreichen.

Wenn eine Kasse einen Zusatzbeitrag erheben muss, liegt das im Übrigen nicht daran, dass diese Kasse nicht wirtschaftlich arbeitet oder schlecht geführt wird, wie aus dem Bundesgesundheitsministerium (BMG) immer wieder behauptet wird. Es kann zum Beispiel allein an der regionalen Struktur der Leistungsangebote und Preise liegen, dass eine Kasse mit einer entsprechenden regionalen Versichertenkonzentration zu einem Zusatzbeitrag gezwungen ist.

Die Probleme verschärfen sich

Für das Jahr 2010 wird sich die Lage nicht verbessern, sondern die Probleme werden sich verschärfen. Die neue Bundesregierung sollte daher sofort nach der Wahl, spätestens mit Wirkung ab Januar 2010 den allgemeinen Beitragssatz so bestimmen, dass er tatsächlich 100% der Kosten deckt und eine für die Kostendeckung realistische Anpassungsklausel im Gesetz verankern.

Gefahr: Kassen geraten in Turbulenzen

Weiter ist zu hoffen, dass bis 2010 nicht eine größere Zahl von Kassen in existenzgefährdende Turbulenzen gerät. Das ist jedoch nicht völlig ausgeschlossen, insbesondere wegen der rein rechnerisch schon missglückten einprozentigen Überforderungsklausel beim Zusatzbeitrag. Wenn eine Kasse in diesem eng geschnürten Korsett ihre Finanzierung nicht schafft, ist sie per definitionem schließungsgefährdet und die Aufsicht übernimmt das Regiment. Das hätte sofort Auswirkungen auf die anderen Kassen der gleichen Kassenart, die für die Schließungskosten haften müssen. Es könnte zu »Dominoeffekten« führen, wie wir sie jetzt aus der Bankenkrise kennen.

Auch wenn man nicht schwarzmalen will, – und der Handlungsbedarf ist sogar im BMG anerkannt – muss für dieses Problem schnell eine Lösung gefunden werden. Wenn allerdings – auch wieder aus dem BMG und in diversen SPD-Papieren – verschwommen angekündigt wird, sämtliche, die 1% überschreitenden Kosten müssten wieder von der Allgemeinheit ausgeglichen werden, wäre das grotesk. Wir hätten dann nämlich einen engen Korridor massiv verschärften Wettbewerbs, nämlich zwischen z.B. 8 und max. 36 Euro Zusatzbeitrag, und bei allem Finanzbedarf, der darüber liegt, würde zwischen den Wettbewerbern wieder fröhlich ausgeglichen. Das wäre eine Form des »Wettbewerbs«, die gleichzeitig die erforderliche Vielfalt der Wettbewerber gefährdet und vollkommen widersprüchliche finanzielle Anreize setzt.

Vermurkstes Wettbewerbskonzept

Schließlich muss sich die Politik mit der Sanierung ihres im WSG vermurksten Wettbewerbskonzepts befassen. Wer einen intensivierten Wettbewerb proklamiert, sich aber gleichzeitig wünscht, die Zahl der Kassen möge auf 50 bis 30 sinken, und erklärt, dass eine Bundes-AOK (mit einem nach dem Kartellrecht unzulässigen marktbeherrschenden Mitglieder- und Nachfrageanteil) doch das Beste für die GKV sei, unterliegt einem grundlegenden Missverständnis in Sachen Marktwirtschaft. Wenn dann auch noch den in scharfer Konkurrenz stehenden Kassen vorgeschrieben wird, dass alle mit ein und demselben Hausarztverband die Verträge zur hausarztzentrierten Versorgung abzuschließen haben, nimmt das Plädoyer für mehr Wettbewerb surrealistische Züge an. Zumal die in Frage kommenden Hausarztverträge allesamt die ambulante ärztliche Versorgung sehr viel teurer, aber nicht erkennbar besser werden lassen.

Wettbewerb ernst nehmen

Hier muss sich die Politik entscheiden, ob sie tatsächlich mehr Wettbewerb will, und dann aber auch z.B. unterschiedliche Ergebnisse tolerieren muss. Oder ob sie nur von Wettbewerb im Sinne von Kostendämpfung spricht und dabei die Vorstellung hat, dass alle Wettbewerber zwar gleichzeitig loslaufen, aber alle genau zum gleichen Zeitpunkt wieder am Ziel einzutreffen haben. Nur eine neue Mixtur aus Wettbewerbs-Leerlauf der Kassen und ihrer Vertragspartner und gleichzeitig weiterer staatlicher Gängelung würde die Probleme nicht lösen. Die Idee des Wettbewerbs als Verfahren zur Steigerung von Effizienz und Qualität im Gesundheitswesen sollte ordnungspolitisch endlich einmal ernst genommen werden.