»Healthy Public Policy« – Oder: Wer soll Prävention bezahlen?

»Prävention ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe« – dieser Satz wird in der politischen Debatte zur Finanzierung der Prävention regelmäßig zur Abwehr von Forderungen benutzt, gewissermaßen als Spezifizierung des Sankt-Florian-Prinzips: »Heiliger Sankt Florian, verschon mein Haus, zünd andre an!«
Das ist im praktisch-politischen Leben oft ärgerlich, aber leider stimmt es eben: eine dem Stand des Wissens angemessene Gesundheitspolitik ist konzeptionell an der Veränderung der Gesundheitsdeterminanten (Teilhabe am Gemeinschafts- und Arbeitsleben, Bildung, Einkommen, health literacy) orientiert und versucht bezogen darauf (und herunterdekliniert auf viele, viele einzelne Faktoren) nach Maßgabe ihrer gesundheitlichen Relevanz Belastungen zu senken und Ressourcen zu stärken.

Die Beseitigung von Kinderarmut, der Ausbau von Elementarerziehung, die Verringerung der Einkommensspreizung, die Schaffung von annehmbaren Spiel- und Sportmöglichkeiten, der nicht nur formal sondern auch material gleiche Zugang zu Bildung sind in diesem Verständnis ebenso Primärprävention wie eine funktionierende Bau- und Lebensmittelaufsicht, hygienische Wasser Ver- und Entsorgung, Leitplanken an Straßen, Handlungsspielräume bei abhängiger Arbeit, Quartiersmanagement, Verbot von Zigarettenautomaten, Unterstützung von community building, die Stärkung von Partizipation und sozialer Vernetzung, Entwicklung von health literacy und vieles, vieles mehr. Unter dem Gesichtspunkt der Zuordnung von Finanzierung gerät man auf diesem – wissenschaftlich konsequenten – Wege ins Uferlose. Eine Zuordnung der Kosten nach der Verantwortlichkeit für die zu verhütenden Gesundheitsverluste (›Verursacherprinzip‹) führt ebenso wenig zu schlüssigen Lösungen wie eine Aufteilung nach dem gesundheitlichem Nutzen der Prävention (›Begünstigtenprinzip‹). Auch die Quantifizierung der notwendigen Ausgaben zur Umsetzung der Ottawa-Charta) … allen Menschen einen immer höheren Grad an Selbstbestimmung über ihre Gesundheit zu ermöglichen …) dürfte keine wissenschaftlich sauber und im Konsens zu lösende Aufgabe sein.

Einen ersten groben Zugriff könnte die Aufteilung aller (!) – privaten und öffentlichen – Ausgaben nach den Kriterien ›gesundheitsdienlich‹, gesundheitsneutral‹ und ›gesundheitsschädlich‹ bieten, wobei dann noch Unterscheidungen zwischen spezifisch gesundheitsbezogenen Ausgaben und solchen mit multipler Zielsetzung mit entsprechenden Aufteilungen vorzunehmen wären.

Die üblichen Berechnungen lassen sich auf solche theoriegeleiteten Konzepte erst gar nicht ein und addieren meist einfach die Ausgaben, bei denen ›Gesundheit‹ und ›Prävention‹ (und manchmal auch ›Gesundheitsförderung‹) auf dem Etikett steht. So kommen etwa die OECD-Berechnungen zustande, nach denen in Deutschland im Jahre 2005 immerhin 4,8% der ›Gesundheitsausgaben‹ (auch so eine dubiose Größe) für Prävention ausgegeben worden sein sollen (OECD-Durchschnitt 2,7%, Spitzenreiter Niederlande 5,5%, die Schweiz mit 2,1% etwas abgeschlagen). Bei vielen dieser Berechnungen werden die Kosten für Impfungen, sekundärpräventive Screenings (nicht aber die daraus folgenden Kosten frühzeitiger, d. h. Krankheit vermeidender, also präventiver Therapie) oder vorbeugender Rehabilitation mitgezählt, also all das, was innerhalb des ›Gesundheitssystems‹ (ebenfalls ein schillerndes Konstrukt) explizit für diese Zwecke ausgegeben wird. Vergeblich sucht man hingegen z. B. die Mehrkosten, die dadurch anfallen, dass beim Umgang mit PatientInnen in der Krankenversorgung systematisch Bewältigungsressourcen gestärkt werden, obwohl durch solche (tertiär-)präventiven Bemühungen effektiv Primärprävention von Folgeerkrankungen betrieben werden kann.

Es gibt also beträchtliche theoretische und methodische Probleme zu bestimmen, wie viel Geld derzeit für Prävention (einschließlich Gesundheitsförderung) ausgegeben wird. Kein Wunder, geht es doch um einen omnisektoralen und tendenziell unendlichen Prozess, in dem die meisten Veränderungen (und damit zumeist auch Kosten) nicht ausschließlich und eindeutig auf Gesundheit zu beziehen sind.

Gefragt ist also Pragmatik. Die derzeit – auf unterschiedlichen Entwicklungsstufen – in Arbeit befindlichen Präventionsgesetze in Österreich, der Schweiz und in Deutschland sehen eine Finanzierung durch Anteile bzw. Aufschläge auf die Beiträge bzw. Prämien zur Krankenversicherung vor: Der deutsche Anlauf von 2005 ging mit der Einbeziehung der anderen Zweige der Sozialversicherung und dem Versuch einer Koordination mit staatlichen Programmen und Projekten noch etwas weiter. Die Ausklammerung der Arbeitslosenversicherung und der PKV beruhte nicht auf Systematik sondern auf Macht.
Verbunden ist damit die politische Grundentscheidung, die ›vierte Säule‹ aus dem bestehenden System der sozialen Sicherung heraus zu entwickeln. Das ist pragmatisch vertretbar, weil hier gute Daten und manche Expertise zu Problemen, Daten, Zielgruppen und Interventionsmöglichkeiten vorhanden ist. Die Entscheidung impliziert aber auch eine Beschränkung auf Interventionen, die diese Institutionen ›können‹, zumindest aber kaufen können. Dabei handelt es sich regelmäßig um Angebote der individuellen Verhaltensbeeinflussung und der professionellen Unterstützung von ›Lebenswelten‹ (settings), die sich auf den Weg der partizipativen Belastungsminderung und Ressourcenstärkung (und damit auch indirekt, aber wirkungsvoll: der Verhaltenslenkung) machen wollen. Die Tatsache, dass die GKV im Rahmen des § 20 SGB V im Jahre 2007 – bei Ausgaben von ca. 300 Millionen Euro (das sind knapp 2 Promille der Ausgaben für Krankenversorgung) – ca. 80% der Ressourcen auf mittelschichtfreundliche und werbewirksame individuelle Verhaltenskurse und nur ca. 20% auf Projekte – höchst unterschiedlicher Qualität – in betrieblichen und nicht-betrieblichen Settings verwendete, verweist auf die Notwendigkeit, nicht nur einen Finanzier zu bestimmen, sondern auch dessen anreizbedingte Interessenlage zu berücksichtigen.

Aber auch die – pragmatisch gut zu begründende – Beschränkung einer gesetzlichen Regelung auf explizite, nicht-medizinische Primärprävention durch Sozialversicherungen ist nicht systematisch sauber: die gleichen Ziele verfolgen auch staatliche, zum Teil auch private Programme z. B. gegen Fremdenfeindlichkeit, Drogengebrauch, Gewalt, Kriminalität etc.

Gesucht wird also ein Mechanismus, der alle öffentlich verantworteten und deshalb auch meist öffentlich (mit-)finanzierten Projekte und Programme der nicht-medizinischen Primärprävention verbindlich an Ziele (ausgehend vom Oberziel: Verminderung sozial bedingter Ungleichheit von Gesundheitschancen) und an Qualitätsanforderungen bindet, der für verlässliche und nachhaltige Finanzierung auch langfristiger Interventionen sorgt und dabei auch die kreativen Potenziale der vielen grassroot Projekte fördert und nutzt. Da das Ganze möglichst ohne ›Bürokratie‹ auskommen soll und die deutsche Finanzverfassung formal die Mitbestimmung staatlicher Stellen über die Verwendung von Sozialversicherungsgeldern verbietet (›Mischverwaltung‹), keine leichte Aufgabe.

Der derzeitige Schweizer Gesetzentwurf sieht die Errichtung eines unabhängigen ›Instituts für Prävention und Gesundheitsförderung‹ unter staatlicher Aufsicht vor, das auf gesetzlicher Grundlage Versicherungsgelder und Steuermittel einnimmt und ausgibt. Natürlich könnte dies auch ohne Schaden für die Qualität zu 100% aus Steuermitteln finanziert werden. So etwas könnte auch in Deutschland ein erster Schritt sein – beim nächsten Anlauf zu einem Präventionsgesetz in der nächsten Legislaturperiode. Auf einer solchen Grundlage ließe sich dann auch besser darüber nachdenken und debattieren, wie die vielen Wege zu einer ›healthy public policy‹ zu gestalten und zu finanzieren wären.