Das HGB als Vorbild – Jahresrechnungen der GKV wirft Fragen auf

Die Gesundheitsbranche unterliegt gegenwärtig einer Annäherung von gesetzlichen Krankenkassen und privaten Krankenversicherungsunternehmen. Einen Ausdruck dieser Annäherung findet sich im Gesetz zur Weiterentwicklung der Organisationsstrukturen in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-OrgWG) wieder. Dieses Gesetz hat unter anderem die Vorschriften für die Jahresrechnungen der gesetzlichen Krankenkassen geändert.

Durch die Übernahme von Regelungen des deutschen Handelsrechts in die sozialversicherungsrechtlichen Vorschriften kommt diese Annäherung künftig zum Tragen. Deutliche Veränderungen, die auch viele Fragen aufwerfen.
Durch Artikel 2 Nr. 1 GKV-OrgWG wurde in § 77 SGB iv ein neuer Absatz 1a eingefügt. Alle Regelungen des § 77 Abs. 1a SGB iv sind dem Handelsgesetzbuch entnommen.(1)

In ihm wird unter anderem gefordert, dass die Jahresrechnungen der Krankenkassen ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage zu vermitteln haben. Handelsrechtlich gilt dieser sogenannte »True-and-fair-view« lediglich für alle Kapitalgesellschaften. Im HGB ist hierzu neben Bilanz und Gewinn- und Verlustrechnung zwingend ein Anhang erforderlich, der genau vorgegebene Informationen enthalten muss.

Nun enthalten die Jahresrechnungen der gesetzlichen Krankenkassen bisher keinen Anhang! Es stellt sich daher die Frage, ob ohne Anhang künftig überhaupt ein »True-and-fair-view« vermittelt werden kann. Dies ist von besonderer Bedeutung, da die gesetzlichen Vertreter der Krankenkassen bei Unterzeichnung der Jahresrechnung nach bestem Wissen schriftlich versichern müssen, dass die Jahresrechnung einen »True-and-fair-view« vermittelt. Diese schriftlich abzugebende Erklärung (2) ist durch § 111 Abs. 5 und 6 SGB V in der Fassung von Artikel 2 Nr. 4 GKV-OrgWG als Ordnungswidrigkeit mit einer Geldbuße bis zu 50.000 Euro sanktioniert.

In § 252 HGB stehen sechs allgemeine Bewertungsvorschriften, wie sie durch jeden Kaufmann verpflichtend anzuwenden sind. Fünf von diesen Bewertungsvorschriften wurden durch Artikel 2 GKV-OrgWG in § 77 Abs. 1a SGB iv übernommen. Ausgenommen hiervon ist § 252 Abs. 1 Nr. 2 HGB: »Bei der Bewertung ist von der Fortführung der Unternehmenstätigkeit auszugehen, sofern dem nicht tatsächliche oder rechtliche Gegebenheiten entgegenstehen.« (3) Warum gerade diese handelsrechtlich sehr bedeutsame Regelung von der Übernahme ausgelassen wurde, erscheint insbesondere vor dem Hintergrund der ab dem 1. Januar 2009 bestehenden Insolvenzfähigkeit gesetzlicher Krankenkassen (4) sehr fragwürdig.
Ferner wurden auch Klarheit und Übersichtlichkeit des Jahresabschlusses sowie Unveränderlichkeit der Buchführung aus dem Handelsrecht übertragen. Diese Vorschriften werden in § 77 Abs. 1a Satz 3 SGB iv als Bewertungsgrundsätze deklariert. Handelsrechtlich stellen sie jedoch keine Bewertungsgrundsätze dar, sondern gehören in die Kategorien der Aufstellungsgrundsätze sowie Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung. Damit ist ein systematischer Fehler bei der Formulierung des § 77 Abs. 1a Satz 3 SGB IV offenkundig.

Die bedeutendsten Auswirkungen auf die künftigen Jahresrechnungen der gesetzlichen Krankenkassen werden die Prinzipien der Vorsicht, Imparität, Realisierung, Wertaufhellung und Periodenabgrenzung nehmen. Mit diesen Rahmenbedingungen verabschiedet sich die GKV nunmehr in ihren Jahresrechnungen komplett von der kameral geprägten Einnahmen-Ausgabenrechnung und wendet sich der doppelten Buchführung zu. Wie dies konkret ausgestaltet werden soll, hat das GKV-OrgWG noch nicht beantwortet. Artikel 2 Nr. 2 GKV-OrgWG führt im neu geschaffenen § 78 Satz 3 SGB iv lediglich aus, dass Ausführungsbestimmungen über die Grundsätze nach § 77 Abs. 1a SGB iv in den bestehenden Rechtsverordnungen(5) aufgenommen werden können.

Nach unserer Auffassung ist eine derartige Konkretisierung zwingend geboten, da die gegenwärtigen Änderungen eine Vielzahl an Fragen aufwerfen. Bisher ist dies nicht geschehen. Wir sehen der weiteren Entwicklung daher mit Spannung und großem Interesse entgegen.

Anmerkungen

  • 1 Quellen im HGB: § 264 Abs 2 Sätze 1 und 3 HGB, § 252 Abs. 1 Nr. 1 und 3 bis 6 HGB, § 243 Abs. 2 HGB und § 239 Abs. 3 HGB
  • 2 Die Erklärung gilt handelsrechtlich nur für Kapitalgesellschaften, die Inlandsemittent im Sinne des § 2 Abs. 7 WpHG und keine kapitalmarktorientierte Kapitalgesellschaft im Sinne des § 327a HGB ist.
  • 3 sog. Going-concern-Prämisse
  • 4 § 171c SGB V in der Fassung von Artikel 1 Nr. 8 GKV-OrgWG
  • 5 SVHV: »Verordnung über das Haushaltswesen in der Sozialversicherung« und SVRV: »Verordnung über den Zahlungsverkehr, die Buchführung und die Rechnungslegung in der Sozialversicherung – Sozialversicherungs-Rechnungsverordnung«