Das Bild des mündigen Patienten, der informiert, verständig und kommunikationsbereit mit Ärzten und Pflegepersonal an seiner schnellen Genesung arbeitet, geistert durch Veröffentlichungen und taucht in Kongressvorträgen auf. Große Hoffnungen werden in ihn gesetzt: Einerseits soll er viele Kosten sparen und damit zur finanziellen Stabilität unseres Gesundheitssystem beitragen, andererseits soll er mit dem chronisch überarbeiteten Klinikpersonal zumindest in kleinem Rahmen Verantwortung teilen und ihm gerne auch in größerem Rahmen Arbeit abnehmen.
So nahm auch die Rürup-Kommission, die sich 2003 eigentlich nur um die Nachhaltigkeit der Finanzierung des Sozialversicherungssystems kümmern sollte, eine Empfehlung in ihren Bericht auf, nach der der Verbraucher im Gesundheitswesen, also der Patient, besser beteiligt werden soll.
»Partizipation ist … ein wesentlicher Faktor für Effizienz und Qualitätsentwicklung … Je souveräner Patienten und Versicherte als Verbraucher im System agieren, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass Mittel effizient und zielgenau eingesetzt werden. Versicherten- und Patientenbeteiligung ist daher eine strukturelle Bedingung für Qualität und Wirtschaftlichkeit und somit für die Zukunftsfähigkeit des Gesundheitssystems.«
Da der Patient zur Souveränität und Mündigkeit Informationen benötigt, wird er ausführlich und breit informiert. Da gibt es Selbsthilfegruppen, Internetforen und Websites von Krankenkassen. Institutionen, die sich der Qualitätsverbesserung des Gesundheitssystems widmen, erheben Qualitätsindikatoren, die dem suchenden Patienten Aufschluss über das Leistungsniveau von Kliniken und Ärzten geben sollen. Patientenbewertungen werden veröffentlicht und erscheinen teilweise vergleichbar mit Hotelerlebnisberichten im Internet. Dazu kommen natürlich andere Medien – Gesundheitsinformationssendungen, Artikel in Zeitschriften, Hotlines von Krankenkassen. Der Patient ist informierter denn je – aber macht ihn das mündiger?
Mündigkeit verlangt mehr als Informationen. Mündig ist man, wenn man aus dem großen Angebot von Informationen und Wissen eine Entscheidung treffen, umsetzen und verantworten kann. Dazu benötigt man noch Theorie, Erfahrungen und partnerschaftlichen Austausch mit Experten. Und spätestens hier kommt – endlich – der Arzt wieder ins Spiel.
Gespräche mit dem Arzt sind unverzichtbar. Untersuchungen haben ergeben, dass das Patienten vertrauen in das gesamte Gesundheitssystem proportional zu der Länge des Arztgespräches wächst. Untersuchungen haben aber auch ergeben, dass im durchschnittlichen Arztgespräch der Patient 103Sekunden zu Wort kommt und dabei schon nach 18 Sekunden vom Arzt unterbrochen wird. Mit Mündigkeit, Patientensouveränität, Shared-Decision-Making und all den damit einhergehenden vorher genannten Nutzen der Qualitätsverbesserung und Kosteneinsparung hat das nichts zu tun. Woran liegt das? Warum schaffen wir es nicht, den Patienten – als Mittelpunkt des Geschehens – richtig einzubinden? Oder steht jetzt der Patient im Mittelpunkt – und damit allen im Wege?
Diese These erinnert ausgesprochen stark an die achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts. Unter der Überschrift »Der Kunde steht im Mittelpunkt« entdeckte die Wirtschaft den Kunden. Seine Bedeutung als Abnehmer und damit derjenige, der das Geld in das Unternehmen bringt, bekam eine weitere Dimension, als festgestellt wurde, dass der Kunde auch an der Qualität der erbrachten Leistung Anteil hat und durch sein Verhalten auch die Kosten, das Arbeitsklima und die Entwicklung eines Unternehmens stark beeinflusst. Viele Unternehmen erkannten das Potential, das in der richtigen Kundeneinbindung und -orientierung steckt, wollten fortan den Kunden in den Mittelpunkt stellen und verfassten dazu schöne interne Leitlinien und beeindruckende externe Imagebroschüren.
Doch interessanterweise fühlten sich die Kunden trotz aller Beteuerungen der Anbieter nicht eingebunden und »funktionierten« nicht erwartungsgemäß. Viel wurde geforscht und untersucht, um die Gründe dafür herauszufinden. Die Erklärung war ganz einfach: Der Kunde lässt sich nicht am »grünen Tisch« in den Mittelpunkt setzen. Er erwartet, dass er als geschätzter Partner behandelt wird und dass ihm Raum zur Gestaltung des Mittelpunkts gegeben wird. Folgende Situation soll als Beispiel dienen: Sie betreten eine Filiale eines bundesweit bekannten Heimwerkergeschäfts. Das verkaufte Sortiment kennen Sie auch von anderen Heimwerkerketten. Immer wiederkehrende Sonderangebote werden Ihnen durch Beilagen und Prospekte in Ihrer Tageszeitung bekannt gemacht. Neuerdings ist Ihnen die Werbung des von Ihnen ausgesuchten Geschäftes im Fernsehen aufgefallen. Es wirbt mit besonders freundlichem und kompetentem Fachpersonal, das sich rührend um Sie kümmert.
Mit hoher Erwartung betreten Sie also das Geschäft. Sie haben ein bestimmtes Problem und erwarten Antworten und Anregung. Der erste Verkäufer, den Sie zufällig erwischen, schickt Sie mit einem »da bin ich nicht zuständig« zu einem Regal »hinten rechts«. Dort stehen Sie grübelnd vor einer Flut von Farbtöpfen – Ölbasis, Wasserbasis, biologisch abbaubar, wasserfest und so weiter. Ein Verkäufer taucht auf. Sie schauen ihn erleichtert an. Doch der kontrolliert gerade eine Liste und ignoriert Sie völlig. Der nächste Mitarbeiter verweist auf den Kollegen, der »gleich« kommt.
Letztendlich streifen Sie durch das Geschäft auf der Suche nach jemandem, der Ihnen hilft. Sie – der Kunde – müssen einem Mitarbeiter hinterherlaufen, ihn am besten am Ärmel packen und nicht mehr loslassen, bis Sie das richtige Produkt für Ihr Anliegen ausgesucht haben. Dieses Erlebnis lässt Sie die gesamte Werbe- und Marketingarbeit dieses Unternehmens vergessen. In dem Augenblick, in dem Sie als Kunde auf das Unternehmen gestoßen sind, das Unternehmen also die Möglichkeit hatte, Sie durch aufmerksames und partnerschaftliches Verhalten eines Mitarbeiters direkt zu überzeugen, hat es versagt. Das Unternehmen hat das kundenfreundliche Image, das es durch hohen kostenintensiven Werbeeinsatz aufgebaut hatte, in nur einem Moment verloren, nämlich in dem Moment, in dem es auf Sie, den Kunden, traf: Im Moment der Wahrheit.
Im Moment der Wahrheit wird das Unternehmen beurteilt. Hier ist der Mitarbeiter auf sich allein gestellt. Im oben genannten Beispiel hatte es nur der Mitarbeiter in der Hand, ob Sie als Kunde wiederkommen oder nicht. Weder der Informationsstand des Kunden noch die Fernsehwerbung haben darüber entschieden, auch nicht die verlockenden Zeitungsbeilagen und Sonderangebote. Der zunächst positive Eindruck wurde zunichte gemacht, durch die ungeschickte »Handhabung« des Kunden, durch die Mitarbeiter im direkten Kontakt.
Der Kunde lässt sich nicht am »grünen Tisch« in den Mittelpunkt setzen.
Der gesamte Serviceprozess ist eine Kette von Momenten der Wahrheit. Jeder dieser Momente dauert zwischen 40 Sekunden und 4 Minuten – es ist also vor allem die Anfangszeit des direkten Kundenkontaktes wichtig. Innerhalb dieser Zeit entscheidet sich der Kunde, ob er sich in diesem Unternehmen wohl fühlt, kauft, gerne wiederkommt und positiv darüber spricht oder nicht. Ist er zufrieden, ist er angenehmer Kunde, kooperativ und kommunikativ. Er wirkt gern und natürlich an Produktverbesserungen mit und spart durch den einfachen Umgang sogar Kosten.
Wenn er sich in diesem Moment nicht wahrgenommen und gut aufgehoben fühlt, wird er ein »schwieriger« Kunde. Die Kooperationsbereitschaft schwindet, der Kommunikationswille, sogar die –fähigkeit nehmen ab, Engagement und Wille zur Mitwirkung fehlen. Und wenn dieser unzufriedene Kunde auf den nächsten Servicegeber im Prozess trifft, ist er von vorneherein schwieriger zufrieden zu stellen.
Eine Luftfahrtgesellschaft hat herausgefunden, dass der Kunde normalerweise pro Flug fünf Momente der Wahrheit erfährt: Buchung, Check-In, Boarding, Flight-Deck (Begrüßung des Fluggastes durch das Flugpersonal beim Einstieg in das Flugzeug) und mindestens einmal beim Service an Bord. Alle Arbeiten im Hintergrund, die für Sicherheit und Sauberkeit im Flugzeug, die für korrekte Abrechnung oder Mitarbeitereinsatzplanung bei der Fluggesellschaft notwendig und in jedem Qualitätsmanagement-Handbuch ausführlich beschrieben sind, sind aus Sicht des Kunden irrelevant. Er erwartet einfach, dass das funktioniert. Seine Beurteilung bezieht sich auf die Momente der Wahrheit, die er im direkten Kontakt erlebt, und er steuert sein Verhalten entsprechend.
Wenn das Konzept des mündigen Patienten ernst gemeint wird, muss jeder Prozess aus Sicht des Patienten durchleuchtet werden.
Ganz offensichtlich wurde bei dem Heimwerkermarktbeispiel »Kundenorientierung« am grünen Tisch geplant – und auch gleich vermarktet. Hier hatte sich niemand die Mühe gemacht, die Momente, die der Kunde erlebt, wirklich aus Sicht des Kunden zu sehen. Kein Wunder also, wenn der Kunde eher Frust als Lust erfährt – und entsprechend reagiert.
Nun ist es völlig klar und richtig, dass der Patient nicht mit einem Kunden gleichzusetzen ist. Nicht nur, dass der (gesetzlich versicherte) Patient nicht direkt bezahlt, sondern nur den Juniorpart im Dreiecksverhältnis Leistungserbringer, Kostenträger und Leistungsabnehmer spielt, der Patient ist auch psychisch in einer anderen Situation als der Kunde. Doch der Patienten- und der Kundenbengriff gleichen sich mehr und mehr an: Beide haben die Wahl zwischen Anbietern, beide sollen als souveräne Partner die Erstellung der Dienstleistung bzw. des Produktes positiv mitgestalten. Daher lohnt sich der Blick auf die Erkenntnisse der Forschung am Kundenverhalten.
Auf ein Krankenhaus angewendet bedeutet das: Wenn das Konzept des mündigen Patienten ernst gemeint wird, muss jeder Prozess im Krankenhaus aus Sicht des Patienten durchleuchtet werden. Es ist nicht damit getan, einen Qualitätsmanagementprozess durchzuführen, der die Abläufe darstellt. Wo ist die Sicht des Patienten? Patientenbefragungen sind oft nur begrenzt hilfreich. Die Gefahr ist hier, dass messbare und bequeme, weil leicht im bisherigen System zuordenbare, Variablen abgefragt werden. Der Erkenntniswert ist hier äußerst gering. Die richtigen Parameter sind diejenigen, die für den Patienten relevant sind.
Qualität bedeutet also, mit den Augen des Patienten durch das Krankenhaus und durch die Praxis zu gehen. Wo erlebt der Patient die Momente der Wahrheit? Was geschieht schon an der Pforte? Jede Pflegekraft, jede Reinigungskraft und – selbstverständlich – jeder Arzt, auf den der Patient trifft, gestaltet mit ihm zusammen so einen Moment der Wahrheit. Und der Patient entscheidet je des Mal: Gefällt es mir hier oder nicht? Bringe ich mich in den Prozess kooperativ ein oder nicht? Komme ich wieder hier her oder nicht? Empfehle ich dieses Haus weiter oder nicht? Die Folgen dieser Entscheidungen werden bei mehr Wettbewerb auch bei Kliniken bald unter dem Strich zu sehen sein.
Wenn es gelingt, die Abläufe, die ein Patient durchlebt, als Kette von Momenten der Wahrheit zu analysieren, kann jeder Moment für sich betrachtet verbessert werden. Und wenn dann in je dem Moment der Wahrheit der Patient als Partner gesehen wird, der souverän und mündig mitgestalten und auch mitarbeiten soll, dann wird auch endlich das große Potential gehoben, das in Patienten steckt. Für den Arzt und das Pflegepersonal bedeutet dies mehr Partnerschaftlichkeit, für das Gesundheitssystem bedeutet dies mehr Effizienz und Zielgenauigkeit und für den Patienten, dass er sich nicht als Fremdkörper im Klinikablauf erlebt, sondern als denjenigen, um den es eigentlich geht – eben doch als Mittelpunkt.