»Dafür bin ich nicht angetreten«

Wie sich Gesundheitsreformen auf das Verhalten von Krankenhausärzten auswirken

Die seit der zweiten Hälfte der 70er Jahre andauernden Reformbemühungen im bundesdeutschen Gesundheitswesen haben zu einer langfristigen und grundlegenden Modifikation, Umgewichtung und Neudefinition gesundheitspolitischer Zielvorstellungen im stationären Sektor geführt. Ein ordnungspolitischer Wandel wurde eingeleitet, der sich bis heute fortsetzt. Die Resultate von Arztbefragungen weisen auf Widersprüche zwischen Finanzierungs- und Versorgungslogiken hin, die zunehmend zuungunsten einer bestmöglichen Versorgung der Patienten gelöst werden und zu einer hohen Berufsunzufriedenheit von Krankenhausärzten geführt haben.

30 Jahre Gesundheitsreformen – und nichts ändert sich? Viele Jahre war es in Kommentaren zur Wirkung von Gesundheitsreformen üblich, diesen geringe bis gar keine Wirkung zu unterstellen. Maßstab hierfür war primär die Entwicklung der Ausgaben. Wuchsen sie weiter, wurde von an halten der Tendenz zur »Kostenexplosion« gesprochen und Strukturreformen wurden angemahnt. Erst seit einigen Jahren beginnt sich die Erkenntnis durchzusetzen, dass sich als Folge der Reformgesetzgebung ein grundlegender Wandel in der sozialpolitischen Gestaltung gesundheitsbezogener Lebensrisiken abzeichnet. Welche möglicherweise schwer wiegenden Konsequenzen sich daraus für die Patienten ableiten, belegen Untersuchungen, die auf der Befragung von Ärzten basieren.

Dokumentation raubt Zeit für den Patienten

Sie zeigen, dass sich die aktuelle Krankenhausversorgung in Deutschland in einem Besorgnis erregenden Umbruch befindet, denn Zeit für die Versorgung und Pflege der Patienten ist ein knappes Gut geworden und steht zunehmend in Konkurrenz mit dem Zeitaufwand, die Leistungen gegenüber Krankenkassen zu dokumentieren und zu rechtfertigen. Ein Arzt beschreibt sein Dilemma zugespitzt: »Ich kann eine AOK-Anfrage beantworten oder ich kann einen AOK-Patienten behandeln. Beides geht nicht«. Wie sehr bei dieser Abwägungsentscheidung Spielraum zugunsten des Patienten besteht und genutzt wird, hängt dann nicht zuletzt von der wirtschaftlichen Lage des jeweiligen Hauses ab: »Das bedeutet für die kleinen Krankenhäuser, wir müssen um jeden CCL-Punkt kämpfen wo nur irgend möglich. Und das geht natürlich auch nur über Dokumentation, das heißt, der Dokumentationsaufwand steigt noch um Wesentliches mehr. Entweder ich pumpe mir Personal, das das erledigt, aber das kann ich nicht. Also muss das bisherige Personal das erledigen und das heißt, die Zeit fehlt für den Patienten.« fürchtet wird, dass heutige Mediziner den Patienten dauerhaft aus dem Blick verlieren und künftige Medizinergenerationen ihnen dies zu Recht vorwerfen werden. Die derzeit begünstigte Handlungslogik wird mit dem Satz charakterisiert, »der MDK wird gucken, ob Sie den Verbandswechsel dokumentiert haben. Es wird keiner Sie danach fragen, ob Sie den getan haben«.

Keine Lösungsideen

Diese Logik wirkt sich bereits auf die Kommunikation zwischen ärztlichen Kollegen aus, in dem man eher fehlende Dokumentationen anmahnt, als darauf zu insistieren, dass diese Behandlung / Untersuchung auch tatsächlich gemacht wird, weil man weiß, dass der Kollege dafür keine Zeit hat. Insofern befindet man sich in einem Konflikt mit seinem beruflichen Selbstverständnis und dem bisherigen Arzt-Patient-Verhältnis. Das Dilemma und die Verunsicherung über das traditionelle ärztliche Selbstverständnis sind nach Aussage eines ärztlichen Direktors auch deshalb so groß, weil keiner der Kollegen eine Lösung weiß: Die Begrenzung durch die Budgetierung wird sogar als entscheidender wahrgenommen als die DRGs. Aber gerade diese Überlegung stößt auf die Grenze volkswirtschaftlicher Erwägungen, weil man sieht, dass gute Medizin auch einen entsprechend hohen Anteil des Sozialproduktes beanspruchen würde.

Fokussierung & Möglichkeiten

Die Gesundheitsreform ist seit 1977 ein Dauerbrenner. Damals begann, was sich bis heute fortsetzt – die Verabschiedung von Kostendämpfungs- und Strukturreformgesetzen in immer kürzerer Abfolge, so dass hier von einer gesundheitspolitischen Dauerbaustelle gesprochen werden muss, deren Schließung auf unabsehbare Zeit vertagt wurde. Die Analyse zeigt, dass die Politik – unabhängig von der jeweiligen Regierungskoalition – ein gemeinsames Ziel verfolgt: Die Durchsetzung eines ordnungspolitischen Wandels, der darin besteht, dass die Orientierung am Ziel der Beitragssatzstabilität tendenziell alle übrigen Ziele der gesetzlichen Krankenversicherung dominiert – also auch das Ziel der Gewährleistung einer flächendeckenden qualitativ hochwertigen Versorgung mit allem medizinisch Notwendigen.

Betriebswirtschaft im Alltag

Praktisch wirksam wird dieser ordnungspolitische Wandel durch die Entkoppelung der Finanzierungsgrundsätze vom medizinischen Bedarf, vor allem durch die Einführung von Budgetierung und pauschalierten Entgeltsystemen. Für die Krankenhausversorgung hat diese neue Finanzierungslogik zu einer tiefgreifenden Verunsicherung der Akteure geführt: Krankenhausleitungen und Beschäftigte sehen sich mit dem politischen Willen konfrontiert, von den derzeit etwa 2.000 Einrichtungen rund 25% schließen zu wollen. Gesteuert werden soll dieser Prozess primär über den Wettbewerb. Das heißt zumindest theoretisch: Das Insolvenzrecht entscheidet zunehmend über den Fortbestand einer Klinik, während Bestandsgarantien über Landeskrankenhauspläne immer mehr an Bedeutung verlieren.

Diese Verunsicherung einer ganzen Branche schlägt sich auch auf die Wahrnehmungen, Deutungen und Handlungsmaximen der Krankenhausärzte nieder. Die Auswertung mehrerer qualitativer und quantitativer Ärztebefragungen seit 2003 zeigt, dass ökonomische Handlungsgrundsätze bereits bis auf die Ebene der Assistenzärzte hin unter vermittelt wurden und der Knappheitsgedanke Eingang in die Arzt-Patient-Beziehung gefunden hat. So werden beispielsweise Patienten, deren Pauschale verbraucht ist, von Ärzten intern als »Draufleger« bezeichnet, die man möglichst schnell entlassen sollte. Eine solche betriebswirtschaftliche Handlungslogik steht natürlich im Konflikt mit der medizinischen Handlungsnorm, für jeden Patienten alles medizinisch Notwendige leisten zu wollen.

Im Widerspruch mit dem beruflichen Selbstverständnis

Die Analyse zeigt, dass das traditionelle berufliche Selbstverständnis derzeit von den Bedingungen der beruflichen Praxis in Frage gestellt wird. Die Aussage, »dafür bin ich nicht angetreten und habe diesen Beruf ergreifen wollen« beschreibt den Konflikt, indem sich viele Ärzte derzeit befinden. Entsprechend bereuen etwa 35% der deutschen Krankenhausärzte ihre Berufswahl. Ein Vergleich der Befragungen von 2003 bis heute zeigt, dass die Ärzte ihre Beziehung zum Patienten zunehmend als ein auch betriebswirtschaftliches Verhältnis wahrnehmen. Bei den meisten Befragten ist der Versuch zu beobachten, eine aus ihrer Sicht statussichernde Neudeutung der eigenen Profession zu realisieren: So wird am Begriff des medizinisch Notwendigen festgehalten, weil er an das traditionelle berufliche Selbstverständnis anknüpft und darüber hinaus sicherstellt, dass man nicht grundsätzlich in Widerspruch mit der eigenen Berufsethik gerät. Dies gelingt deshalb, weil der Begriff der Notwendigkeit in einem gewissen Umfang deutungsoffen ist: Insbesondere Ganzheitlichkeit, psychosoziale Versorgung und ambulant erbringbare Leistungen sind Versorgungsbedarfe, die aus Sicht von Krankenhausärzten unter der Bedingung beschränkter finanzieller Ressourcen disponibel erscheinen.

Gegenwärtig sind folgende Einschränkungen einer bedarfsgerechten Versorgung von gesetzlich versicherten Patienten im Krankenhaus zu beobachten:
· Wartelisten werden eingeführt, um eine gleichmäßigere Auslastung der OP-Kapazitäten zu er möglichen. Das heißt, der Anteil an Behandlungen mit Wartezeiten bis zur Aufnahme steigt (2004: 65%, 2005: 71%, 2007: 76%), mit der Folge, dass die betroffenen Patienten durch eine spätere Behandlung belastet werden.
· Patienten werden nicht stationär, sondern ambulant bzw. vorstationär aufgenommen. Das reduziert auf Seiten des Krankenhauses die Kosten, kann jedoch je nach Zustand des Patienten und der Entfernung zum Krankenhaus zusätzliche Belastungen für die Betroffenen bedeuten.
· Bei ausgewählten Eingriffen wird die Behandlung auf mehrere Krankenhausaufenthalte verteilt (Fallsplitting), um mehr als eine Fallpauschale erlösen zu können. Hier werden die Patienten durch weitere Krankenhausaufenthalte und spätere Heilung belastet.
· Um pro Fallpauschale den Ressourceneinsatz niedrig zu halten, wird über die Primärdiagnose hinausgehender zusätzlicher Behandlungsbedarf zeitlich – wie beim Fallsplitting – und räumlich – zum Beispiel durch die Überweisung an niedergelassene Ärzte – verschoben. Ob die notwendigen Behandlungen dann auch erbracht werden, bleibt dabei ungewiss.

Folgen der Gesundheitsreformen

Für etwa 30% der Krankenhäuser haben Budgetierung, Rückgang der Investitionskostenzuschüsse und das Fallpauschalensystem in den Krankenhäusern zu einer Erhöhung des Kostendrucks beigetragen. Für alle Häuser gilt, dass durch die Gesundheitsreformen die Durchsetzung betriebswirtschaftlicher Grundsätze befördert wurde. In der Folge wuchs die Arbeitsbelastung des medizinischen und pflegerischen Personals.

Als hinderlich für eine hochwertige Versorgung erweist sich vor allem, dass die Arzt-Patient-Beziehung immer mehr von Erlöserwägungen bestimmt wird. Auch bei den derzeit immer wieder stattfindenden Protesten von Ärzten und Pflegekräften wird zunehmend darauf hingewiesen, dass jede weitere Einengung der finanziellen Handlungsspielräume dazu führt, notwendige medizinische Leistungen rationieren zu müssen, um den Arbeitsalltag irgendwie meistern zu können.

Entsprechend ist der Anteil an Ärzten, die ihr Arbeitspensum nicht schaffen, zwischen 2004 und 2007 von 31 auf 37% gestiegen.

Die Politik fordert Offenheit

Wenn es politisch gewollt ist, dass von den derzeit bundesweit etwa 2.000 Krankenhäusern bis zu 25% geschlossen werden, dann sollte dies auch im Rahmen der Landeskrankenhausplanung entschieden und gegenüber der Bevölkerung verantwortet werden. Sonst ist für etwa 30% der Häuser ein mittel- bis langfristiges Siechtum zu erwarten, weil die örtlichen Politiker nicht für die Schließung »ihres« Krankenhauses verantwortlich sein wollen und dann doch wieder Defizite ausgleichen. Das verzögert zwar die Insolvenz, geht aber mit einer schlechten Mittelausstattung einher, so dass Personal abgebaut werden muss – die Folge: eine schlechtere Versorgung der dort behandelten Patienten.

Darüber hinaus sollte es verstärkt Mindeststandards für die Ausstattung von Krankenhäusern geben, etwa bei der Personalausstattung und dessen Qualifikation, um diese Bereiche dem Wettbewerbsdruck zu entziehen. Eine Auflösung des Dilemmas, was die Aufgaben der Ärzte betrifft, erscheint nur möglich, wenn die Effektivität und Effizienz der Leistungserbringung durch verstärkte Kooperation der beteiligten Akteure deutlich verbessert wird.

Das kann vor allem im Rahmen der so genannten integrierten Versorgung geschehen, etwa wenn die Zusammenarbeit von ambulant und stationär tätigen Ärzten zum Regelfall wird. Ein Schritt in diese Richtung wäre beispielsweise, Qualitätsinitiativen und integrierte Versorgungsprogramme über Zuschläge zur Pauschalvergütung der Ärzte beziehungsweise Krankenhäuser zu fördern, statt – wie derzeit üblich – die Zusammenarbeit der Anbieter medizinischer Leistungen über Erlösminderungen und Verteilungskämpfe unattraktiv zu machen. Wird Qualität und bedarfsgerechte Innovation in der Gesundheitsversorgung auf solche Weise angemessen vergütet, könnten sich in Zukunft wohl auch wieder mehr Mediziner voll mit ihrem Beruf identifizieren.

Dieser Beitrag basiert vor allem auf zwei Neuerscheinungen:

  • Klinke, Sebastian, 2008: »Gesundheitsreformen und ordnungspolitischer Wandel im Gesundheitswesen«, in: Hensen, Gregor; Hensen, Peter (Hg.), Gesundheitswesen und Sozialstaat. Gesundheitsförderung zwischen Anspruch und Wirklichkeit, Gesundheit und Gesellschaft, Wiesbaden: VS-Ver lag: 49-102.
  • Klinke, Sebastian, 2008: Ordnungspolitischer Wandel im stationären Sektor. 30 Jahre Gesundheitsreform, DRG-Fallpauschalensystem und ärztliches Handeln im Krankenhaus., Berlin: Pro BUSINESS.