Den Problemen im Übergang chronisch kranker Jugendlicher aus der pädiatrischen Versorgung in die Erwachsenenmedizin widmet sich ein neues Forschungsprojekt. DRK Kliniken Berlin, IGES Institut und die Robert Bosch Stiftung wollen gemeinsam mit einigen Krankenkassen den Übergang verbessern.
Es ist ein altes Problem der deutschen Gesundheitsversorgung: Schnittstellenverluste. Ob im Übergang der Sektorengrenze oder in der stationären bzw. der ambulanten Versorgung selbst. Es fehlt häufig eine koordinierende Stelle, ein sich für den Gesamtprozess verantwortlich fühlender Akteur, der Doppeluntersuchungen, unnötige Medikationsumstellungen und letztlich auch Behandlungsabbrüche verhindert.
Spezialisten der eigenen Erkrankung
Was sich für Menschen, die nur ein Mal im Jahr wegen einer Grippe zum Arzt gehen, als irrelevant darstellt, ist für Patienten mit chronischen Erkrankungen eine enorme Herausforderung mit erheblichem Zeitaufwand: die Sicherstellung einer kontinuierlichen Behandlung. Sie müssen zumeist in Eigenregie etwa die für ihr Krankheitsbild notwendige fach- und hausärztliche Versorgung koordinieren, Therapien anwenden und verschiedene Themen mit ihrer Krankenkasse abstimmen. Sie entwickeln sich nicht selten zu Spezialisten ihrer eigenen Erkrankung.
Eigenverantwortlichkeit
Das derzeitige Versorgungssystem baut zur Sicherstellung einer qualitativen Versorgung zunehmend auf die Eigenverantwortlichkeit des Patienten. Die Kinder- und Jugendmedizin ist dafür ein Beispiel. Der Übergang aus diesem geschützten Bereich in die Erwachsenenmedizin wird oftmals zu einer Versorgungsbruchstelle für den jungen Patienten zwischen 15 und 21 Jahren. Das gilt insbesondere für chronisch kranke Jugendliche, für die eine kontinuierliche Versorgung von hoher Bedeutung ist. Sie sollten besonders auf die Übernahme von mehr Eigenverantwortung vorbereitet werden. Dies ist ein Aufgabengebiet, das z.B. durch Krankenkassen und soziale Einrichtungen abgedeckt werden könnte und sollte.
Diesem Problem widmet sich seit April dieses Jahres ein von der Robert-Bosch-Stiftung und den DRK Klinken Berlin gefördertes Forschungsprojekt. »Zu vielen jungen Erwachsenen gelingt es nicht, eine kontinuierliche Betreuung in dieser Phase zu realisieren«, so Prof. Walter Burger, Projektinitiator und Leiter des Diabeteszentrums für Kinder und Jugendliche an den DRK Kliniken Berlin | Westend zum Ursprung der Projektidee.
Vermeidbare Komplikationen
Die Gefahr: Der oftmals sehr lange Kontaktverlust im Übergang der jungen Patienten aus der Pädiatrie zur notwendigen Spezialbetreuung in der Erwachsenenmedizin kann sich über mehrere Jahre erstrecken und zu vermeidbaren Komplikationen führen. Sicherlich aber wird ein mögliches Qualitätsniveau der Versorgung nicht erreicht. »Es wird im allgemeinen davon ausgegangen, dass bis zu 15% aller Kinder und Jugendlicher in Deutschland unter einer chronischen Erkrankung leiden und eine spezielle medizinische Betreuung benötigen«, veranschaulicht Karsten Knöppler, der für das IGES Institut für die wissenschaftliche Begleitung des Projektes verantwortlich ist, den Problemumfang. »Wichtig ist, die Übergangsphase gut zu managen, denn sonst können sich vermeidbare gesundheitliche Konsequenzen auch auf die gesamte Lebensperspektive, d.h. Ausbildung, sowie den beruflichen und privaten Werdegang der Betreuten negativ auswirken.«
Den werden wir verlieren
Einige Probleme im Übergang von der pädiatrischen in die Erwachsenenmedizin bestehen immer. Andere werden durch die jeweilige spezifische Indikation noch verstärkt. Die Entwicklung der eigenen Individualität, der sich verändernde eigene Körper oder der erste Kontakt zur Sexualität kann bei verschiedenen Indikationen unterschiedliche Probleme aufwerfen, nicht zuletzt auch im Kontext der Zuordnung im sozialen Umfeld. In diese Phase fällt der Übergang von der teilweise langjährigen Betreuung durch den Kinderarzt in die Erwachsenenmedizin, und vom jungen Patienten werden große Leistungen abverlangt: Termine einhalten, Termine ggf. mit mehreren Ärzten koordinieren, Auseinandersetzung mit der Krankenkasse etc. Die Gefahr besteht, dass Patienten, die in der Pädiatrie bislang relativ fürsorglich und persönlich betreut wurden, sich nach dem Übergang in die Erwachsenenmedizin durch die unpersönliche »3-Minuten-Medizin« schlecht betreut fühlen. Folglich lassen sie den Kontakt mit dem Arzt schleifen, eine Fortführung oder Anpassung der Medikation findet nicht mehr statt – die Gefahr von Entgleisungen und Komplikationen wächst.
»Ärzte sagen oft, sie hätten bei einem substantiellen Anteil der Patienten ein schlechtes Gefühl bei der Entlassung aus der pädiatrischen Betreuung. ‚Den werden wir verlieren’«, so fasst Knöppler das bestehende Problembewusstsein in der Kindermedizin zusammen. »Der Patient wird in der Erwachsenenmedizin nicht in einer adäquaten fachärztlichen Versorgung ankommen. Das über Jahre aufgebaute Qualitätsniveau einer gut eingestellten Therapie und einer hohen Compliance ist stark gefährdet.«
Systemgrenzen im Wandel
In Deutschland ist die Versorgungssituation für chronisch kranke Jugendliche beim Übergang in das Erwachsenenalter zwar bereits 1996/97 vom Bundesgesundheitsministerium als dringendes Problem erkannt worden, seitdem hat sich jedoch noch keine Veränderung der Versorgungspraxis ergeben. »Das Risiko der Komplikationen und deren Kosten kann man schwer in Euro berechnen, weil sie sich u.a. erst mittelfristig stärker negativ auswirken«, so Knöppler. »Damit fiel es bislang auch den einzelnen Krankenkassen schwer, sich hier mit konkreten Maßnahmen zu engagieren.« Das Problem ist erkannt und liegt zu einem Teil in den Strukturen des Gesundheitswesens und insbesondere dem Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung. Seit 2000 ermöglicht der Gesetzgeber den Krankenkassen und Leistungserbringern sich vom stark reglementierten Leistungskatalog zu lösen und Versorgungsleistungen durch Einzelverträge flexibler einzukaufen. Das kann auch für die Versorgung chronisch kranker Jugendlicher genutzt werden, indem ihnen eine spezialisierte und integrierte Versorgung angeboten wird.
Die Projektphasen
Auf die Nutzung dieser relativ neuen vertraglichen Grundlagen ist auch das Projektergebnis ausgerichtet. Zunächst konzentriert man sich darauf, ein praktikables Konzept einer erfolgreichen Übergangsphase zu entwickeln. Ab Ende 2008 soll dieses dann an jungen Patienten mit Diabetes mellitus Typ I oder Epilepsie in Zusammenarbeit mit den Kostenträgern und Leistungserbringern in der Praxis erprobt werden. Im Anschluss daran steht mit der Evaluation auch die Weiterentwicklung des Konzepts für andere chronische Erkrankungen an. »Kernziel unseres Projekts ist es, ein übertragbares Interventions- und Rahmenkonzept für die Transitionsphase zu entwickeln, das als Grundlage für Versorgungsverträge zwischen Leistungserbringern und Kostenträgern dienen kann. Bereits in der Projektlaufzeit werden weiterführende Vertragsverhandlungen vorbereitet«, so Knöppler.
»Es ist selbstverständlich zu hoffen, dass unser Konzept später in die Regelversorgung mit aufgenommen wird«, äußert Prof. Burger die langfristige Zielsetzung des Projekts.
Soziale Dimension
Die Übergangsphase zu bewerkstelligen, darin liegt zudem eine soziale Dimension. »Entscheidend für die Annahme des weiterführenden Behandlungs- und Betreuungsangebots ist die Berücksichtigung einer Vielzahl psychosozialer Faktoren wie individuelle Reife, Stand der Krankheitsakzeptanz, individuelle Bewältigungsstrategien und -ressourcen, familiäre Situation, Krankheitskonzepte und sozialer Status«, erläutert Prof. Burger die Komplexität des Ansatzes. Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene aus schwierigen familiären Verhältnissen, sozial schwachen Gruppen oder ethnischen Minderheiten verfügen im Allgemeinen über schlechtere Voraussetzungen, mit diesem Übergang selbstverantwortlich umzugehen. Geringe Bildung und fehlende soziale Unterstützung können diese Menschen besonders anfällig für einen Abbruch der Behandlung machen.
Zu den Kernelementen eines erfolgreichen Übergangs gehören daher für die Projektpartner neben der Entwicklung gemeinsamer Therapiekonzepte und Zielsetzungen der Behandlungsteams in der Pädiatrie und Erwachsenenmedizin auch die stärkere Einbindung von nicht-ärztlichem Betreuungspersonal und die Vorbereitung der Eltern auf die Übergabe der Verantwortung an die Jugendlichen. Soziale Barrieren sollen erkannt und adäquat kompensiert werden.
Berliner Modell
In den USA wurde bereits im Jahr 2000 mit dem Projekt »Healthy People 2010« ein Maßstab gesetzt. Ziel ist es hier, »allen Jugendlichen mit speziellen Versorgungsbedürfnissen bis 2010 einen adäquaten Übergang in eine spezielle medizinische Betreuung zu gewährleisten«.
Die Berliner Projektpartner und die beteiligten Krankenkassen werden sich im Rahmen der Konzeptevaluation auf zwei der bedeutendsten Patientengruppen konzentrieren: Diabetes und Epilepsie. Letztlich hat das Projekt aber das Ziel, anhand dieser exemplarischen Erkrankungen ein flexibles, auf verschiedene chronische Erkrankungen übertragbares Rahmenkonzept für die Übergangsphase zu formulieren.
Die Finanzierung der medizinischen Versorgung erfolgt weiterhin im Rahmen der Regelversorgung der gesetzlichen Krankenversicherung. Die zusätzlichen für die Verbesserung der Transitionsphase erforderlichen Aktivitäten (z.B. gemeinsame Sprechstunden oder der Case-Manager) werden durch die am Projekt beteiligten Krankenkassen aber ebenfalls getragen. AOK Berlin, BKK, DAK, KKH und TK haben sich mit einem »Letter of intent« bereit erklärt, zusätzliche Kosten während der Projektlaufzeit zu übernehmen. »Ihre Beteiligung bereits in der Konzeptionsphase sichert nicht nur eine praxisnahe Konzeption und eine hohe Akzeptanz auf allen Seiten, sondern auch eine zeitnahe Umsetzung«, so die Hoffnung von Herrn Knöppler. »Selbstverständlich besteht auch weiterhin für interessierte Kostenträger, Leistungserbringer sowie Selbsthilfeorganisationen, Berufsverbände und andere die Möglichkeit, sich während der Projektlaufzeit im Raum Berlin und anschließend bundesweit an der Verbesserung der Versorgung chronisch kranker Jugendlicher zu beteiligen.«
Das Projekt ist eine Machbarkeitsstudie mit dem Design einer prospektiven Kohorte und einem überwiegend qualitativen Forschungsansatz. In drei Phasen wird das Interventionsmodell erarbeitet, praktisch umgesetzt und basierend auf der Evaluation als übertragbares Interventions- und Rahmenkonzept ausgearbeitet.
Karsten Knöppler, IGES Institut
Projektteam
Projektleitung und Förderung des Forschungsprojektes:
DRK Kliniken Berlin
Prof. Dr. med. Walter Burger (Diabeteszentrum für Kinder und Jugendliche)
Dr. v. Moers (Klinik für Kinder- und Jugendmedizin)
Versorgungskonzept und wissenschaftliche Begleitung:
IGES Institut Berlin
Karsten Knöppler
Förderung des Forschungsprojektes:
Robert Bosch Stiftung
Kostenträger:
AOK Berlin
BKK VBU (Verkehrsbau Union)
DAK (Deutsche Angestellten Krankenkasse)
KKH (Kaufmännische Krankenkasse)
TK (Techniker Krankenkasse)
Schirmherrschaften:
DDG (Deutsche Diabetes Gesellschaft)
DEGAM (Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin)