Public Health ist Theorie und Praxis der auf Bevölkerungen, Gruppen und Lebenswelten bezogenen Strategien zur Senkung von Erkrankungswahrscheinlichkeiten durch Senkung gesundheitsschwächender Belastungen und Mehrung gesundheitsförderlicher Ressourcen. Dabei geht es neben der nicht medizinischen Primärprävention auch um die Gestaltung und Finanzierung der Krankenversorgung nach den Kriterien ‚equity’ und ‚efficiency’. Public Health braucht die Nähe und die Reibungsfläche zur Medizin, weil die Medizin als eine der zentralen Bezugsdisziplinen zumindest zum Teil Auskunft darüber gibt, was gut ist und was schlecht ist für die Gesundheit, aber auch weil Public Health – ohne den ständigen Bezug auf Krankheit und die Möglichkeiten, sie zu vermeiden – dazu tendiert, konkrete Gesundheitsziele zugunsten allgemeiner Gesellschaftsreform aus dem Auge zu verlieren.
Public Health braucht andererseits auch institutionelle und professionelle Unabhängigkeit von der Medizin. Die große, alte, in ihrer Macht heute vielfach bedrohte Profession der Medizin tendiert dazu, Public Health zu marginalisieren. Warum? Abstrakt gesprochen: Medizin blickt, forscht und interveniert downstream, sie blickt auf das Individuum und seine Krankheiten. Denen folgt sie bis in die Zellen und Gene. Public Health blickt, forscht und interveniert upstream, dorthin, wo Gesundheit und Krankheit entstehen – im Alltag, in der Schule, in der Arbeitswelt. Die wichtigsten Themen von Public Health liegen deshalb außerhalb des klassischen Blickwinkels der Medizin und werden von dort aus nach wie vor als weniger wichtig und zweitrangig angesehen: soziale Determinanten von Gesundheit und Krankheit, sozial bedingte Ungleichheit von Gesundheitschancen, Gestaltung und Steuerung der Primärprävention, Gesundheitssystemforschung, Versorgungsforschung, die über Behandlungsforschung hinaus geht …
Aus diesem Grunde ist beispielsweise die große Mehrzahl der (darunter praktisch alle international bedeutenden) Schools of Public Health in den USA eben nicht Teil einer School of Medicine, sondern in eigenen Institutionen organisiert; gleich berechtigte Nachbarn also, die wissen, dass beide gebraucht werden und sich auch gegenseitig brauchen.
Diese Überlegung bildete Ende der achtziger Jahre auch den inhaltlichen Grund dafür, Public Health in (damals noch West-) Berlin nicht in der Freien Universität (mit Medizin-Fakultät), sondern in der Technischen Universität aufzubauen – mit Nähe zu und unter Einbeziehung der Medizin an der FU. Das war eine richtige Entscheidung. Sie funktionierte in Berlin 12 Jahre lang exzellent – ausweislich externer Evaluationen und gemessen an den etablierten Indikatoren, in postgradualer Ausbildung, in Forschung und in Akquisition.
Als dann die TU unter dem Druck der Berliner Haushaltmisere fast ein Drittel ihrer Professuren einsparen musste, war für Public Health dort kein Platz mehr. Im Jahr 2007 wurde – nach jahrelangen Verhandlungen – die ‚Berlin School of Public Health’ (BSPH) in der Charité-Universitätsmedizin gegründet. Die Deutsche Gesellschaft für Public Health (DHPH) hatte ihre Sorge zum Ausdruck gebracht, ob unter diesen Umständen Unabhängigkeit und Ressourcen und damit die Voraussetzungen für Qualität und die Fortsetzung des Erfolges zu halten seien. In einem Brief vom Juli 2006 versicherte Wissenschaftssenator Flierl der Fachgesellschaft, »dass in Kürze eine Einigung zustande kommt, in deren Ergebnis die Weiterführung der bisherigen Ressourcen der Technischen Universität an der Charité gesichert bleibt« und auch der sozialwissenschaftliche Ergänzungsstudiengang‚ Psychosoziale Prävention und Gesundheitsförderung’ an der FU »in das Gesamtkonzept Public Health mit einbezogen« werde.
Die Weichen waren gestellt. Für die Charité als würdige Erbin sowohl großer Medizin als auch des Public-Health-Ansatzes (Rudolf Virchow, Alfred Grotjan u.a.) war die Chance da, offen und innovativ all die oben skizzierten Vorbehalte wie überholte Vorurteile aussehen zu lassen.
Tatsächlich geschah und geschieht offenbar das Gegenteil: Statt des von vielen befürchteten Sinkfluges scheint Public Health am neuen Platz in der Charité eher so etwas wie einen Absturz zu erleben: Eine Weiterführung mit den an der TU verfügbaren Ressourcen würde den Gegenwert von zwei unbefristeten C4- und einer C3-Stelle nebst Ausstattung u. a. mit wissenschaftlichen Mitarbeitern bedeuten. Stattdessen soll die BSPH nunmehr mit einer noch auf fünf Jahre besetzten W3-Stelle mit kw-Vermerk und einer zunächst auf fünf Jahre befristeten W2-Professur aufgebaut werden. Eine ebenfalls befristete Junior-Professur zum Studiengang ‚Gender and Health’ wird irgendwie mitgezählt. Mit dieser Ausstattung ist die Zusage von Senator Flierl wohl nicht eingehalten, denn alle Stellen sind befristet, sie sind durchweg geringwertiger und gehören zum Teil nicht direkt zur BSPH. Zudem sind die Kerngebiete Public Health (Epidemiologie, sozialwissenschaftliche Grundlagen, Gesundheitssystemforschung, Intervention) nicht abgedeckt.
Die zweite Frage ist, ob mit den für die BSPH bzw. für das Fachgebiet Public Health bereitgestellten Ressourcen eine nachhaltige, akademisch handlungsfähige und wirkungsvolle Struktur aufgebaut werden kann, die dazu geeignet ist, den auf diesem Gebiet international noch immer bestehenden strukturellen Entwicklungsrückstand in Deutschland aufzuholen. Zum Vergleich: Die Universität Bielefeld (ohne Medizin) verfügt über eine eigenständige Fakultät für Gesundheitswissenschaften, und diese strebt gegenwärtig die Einrichtung der zehnten Professur mit Arbeitsgruppe an.
Vor dem Hintergrund der bisherigen Erfahrungen mit dem Aufbau von Studiengängen bzw. Instituten für Public Health kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Aufbau einer akademisch tragfähigen und vorzeigbaren Struktur, die den Namen »Berlin School of Public Health« verdient, mit diesen drei befristeten Stellen zu schaffen ist. Das Land Berlin und die deutsche Hauptstadt können damit die bis zur Gründung der BSPH in Deutschland führende (und so auch politisch gewünschte) Position im zukunftsträchtigen und von der Praxis nachgefragten Feld von Public Health wohl nicht halten. So bleibt denn überaus fraglich, ob mit den in Berlin bereitgestellten Ressourcen eine nachhaltig entwicklungsfähige und die internationale Anschlussfähigkeit sichernde Struktur aufgebaut werden kann. Versuche der DGPH, den Senator für Wissenschaft, Bildung und Forschung vom Ernst dieser Situation zu überzeugen und ein Gegensteuern zu erreichen, haben bislang keine erkennbaren Ergebnisse erbracht – außer der Zusicherung, dass der Senat das Fach Public Health weiterhin fördern und alles im Auge behalten will. Für solche notwendige Beobachtung und Unterstützung scheint sich derzeit neben der Charité eine weitere Baustelle aufzutun: Wie aus der Freien Universität zu hören ist, gilt jetzt auch der dort bestehende sozialwissenschaftliche Public-Health-Master-Studiengang »Psychosoziale Prävention und Gesundheitsförderung« in der FU, der aktuell seine Zertifizierung starten will, als materiell bedroht.