Krankheit des Vergessens: Was weiß die Forschung über Demenz?

Demenz kommt aus dem Lateinischen und bedeutet »ohne Geist sein«. Bezeichnet wird damit der krankhafte Verlust geistiger Funk­tionen. In Deutschland leiden derzeit rund eine Million Menschen an einer Demenz – die meisten von ihnen an der »Alzheimer-De­menz«. Forscher haben inzwischen einiges her­ausgefunden über die »Krankheit des Ver­ges­sens«. Bei der Frage nach den Ursachen tappen sie jedoch weiter im Dun­keln.

Es ist kurz nach elf Uhr. In der Küche der Pflege-WG in Berlin-Mahlsdorf herrscht wie an jedem Tag um diese Zeit hektisches Treiben. Das gemeinsame Mittagessen wird zubereitet. Pünkt­lich um 12 Uhr soll gegessen werden. Heute stehen Reibekuchen mit Apfelmus auf dem Speise­plan.

Die 81-Jährige Magarethe H. sitzt am Küchen­tisch und schält fleißig Kartoffeln – eine akkurater als die andere. »Unsere Magarethe«, sagen die anderen WG-Bewohner, »die ist Weltmeisterin im Kartoffelschälen.« Das kommt nicht von ungefähr: 40 Jahre lang war die gebürtige Berlinerin für eine große Betriebskantine in der Hauptstadt tätig. Dann stellten die Ärzte bei ihr »Morbus Alz­heimer« fest. Sie wurde pflegebedürftig. Ins Pflegeheim wollte die alte Damen nicht. Also entschieden die Angehörigen: Oma zieht in die am­bu­lant betreute Wohngemeinschaft. Mit neun Frauen und Männern teilt sich Magarethe seit knapp einem Jahr eine 370 Qua­dratmeter große Erdgeschoss-Wohnung. Jeder Bewohner hat ein eigenes Zimmer – mit eigenen Möbeln, Andenken und Kabelanschluss. Betreut werden die zehn WG-Mitglieder – der »jüngste« ist 67, der älteste 96 Jahre – von einem ortsansässigen Pflegedienst. Tagsüber kommen vier Schwes­tern, abends drei, in der Nacht schiebt eine Kran­kenschwester »Wa­che«. Magarethe hat die Na­men der jungen Pflege­rinnen vergessen, die für sie Medikamente einholen, ihr beim Waschen und Anziehen helfen und sie in den Arm nehmen, wenn sie wieder einmal ängstlich, unruhig oder aggressiv reagiert und nicht weiß, wer sie ist und wo sie ist – Symptome einer Krankheit, die Al­ter­s­forscher bereits als »Epi­demie des Jahrhunderts« einstufen.

In Deutschland leiden heute rund eine Million Menschen an den Folgen einer Demenzer­kran­kung. Bis zum Jahr 2050, so vorsichtige Prog­no­sen, werde sich die Zahl der Betroffenen verdoppelt, wenn nicht sogar verdreifacht haben. »Mor­bus Alzheimer« gilt derzeit als häufigste Form der Demenz – rund 650.000 Menschen sind aktuellen Erhebungen daran erkrankt.

Vieles weiß die Forschung – das Entscheidende nicht

Forscher haben inzwischen viel herausfinden können über die »Krankheit des Vergessens« – bei der entscheidenden Frage aber, worin genau die Ursache für eine Alzheimer-Demenz liegt, tappen sie weiterhin im Dunkeln. Bekannt ist bislang nur, dass es sich um eine hirnorganische Krankheit handelt, die durch einen langsam fortschreitenden Untergang von Nervenzellen und Nervenzell­kon­takten gekennzeichnet ist. Dabei lagert sich im Gehirn der Betroffenen ein kugelförmiges Eiweiß ab, das Amyloid oder auch Plaque genannt wird. Nervenzellen sterben dadurch kontinuierlich ab; das Gehirn verwandelt sich mehr und mehr zu einem Schrottplatz, auf dem unentwegt Abfall­produkte abgeladen werden. Dadurch kommt es zu einer Beeinträch­tigung der geistigen Leistungs­fähigkeit.

Ein schleichender Prozess – bis hin zum Persönlichkeitsverlust

Zu Beginn der Krankheit leidet der Patient un­ter Gedächtnisstörungen, die sich immer stärker ausprägen. Den Betroffenen fällt es zunehmend schwer, sich an Ereignisse und Personen aus der jüngeren Vergangenheit zu erinnern. Hinzu gesellen sich handfeste Orientierungsprobleme – selbst die eigene Wohnung wird zum Labyrinth. Die Patienten sind verunsichert, was oftmals dazu führt, dass sie sich innerlich zurückziehen und de­pressiv werden. Unruhe, Angst, Sinnestäu­schun­gen, Reizbarkeit und Agg­res­sivität nehmen zu.

Im Endstadium der Er­krankung verlieren De­menz­patienten schließlich jede Form von Eigen­ständigkeit, sie brauchen Pfle­ge rund um die Uhr. Selbst Dinge wie Spre­chen, Essen oder Trinken geraten in Verges­sen­heit und können von Kör­per und Geist nicht mehr richtig ausgeführt werden.

Wichtigster Risikofaktor der Alzheimer-Krank­heit ist das Alter – je mehr Jahre, desto höher das Risiko. Nach Angaben der Deutschen Alzhei­mer Gesellschaft liegt die Wahrschein­lich­keit zu er­kran­ken in der Altersgruppe der 65 bis 75-Jähri­gen bei etwa 1,7 Prozent, in der Alters­gruppe der 75 bis 84-Jährigen bei 11 Prozent und bei Pe­r­so­nen über 84 Jahren bei knapp 30 %. Als gesichert gilt ebenfalls, dass bei der Ent­ste­hung von Alz­hei­mer erbliche Faktoren eine Rolle spielen. So konn­te in verschiedenen Studien nachgewiesen werden, dass sich bei ungefähr 30 Pro­zent aller Alzheimer-Patienten weitere Betrof­fene in der engeren Ver­wandt­schaft fanden.

Eine Pille gegen Alzheimer gibt es bislang nicht

Ein Medikament, mit dem der Alzheimer-Krank­heit vorgebeugt oder mit dem sie gar geheilt werden kann, ist bislang nirgendwo in Sicht. »Wann und ob überhaupt eine solche Arznei zur Ver­fü­gung stehen wird, lässt sich nicht vorhersagen«, sagt Professor Isabella Heuser, Direktorin der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Berliner Charité und Mitglied im Vorstand der »Hirnliga« – einem gemeinnützigen Verein, in dem sich Deutschlands führende Alzheimer­for­scher zusammengeschlossen haben. »Wir müssen«, sagt Heuser stellvertretend für viele Kolle­gen ihrer Disziplin, »noch mehr über die Alz­hei­mer-Krankheit erfahren, um sie bekämpfen zu können. Deshalb muss die Forschung jetzt intensiviert werden.«

»Nationales Forschungszentrum« für Demenzen in Vorbereitung

Der Appell der Wissenschaft scheint mittlerweile auch bei den verantwortlichen Politikern angekommen zu sein. »Immer mehr Menschen erkranken an Demenzen. Um ihnen zu helfen, brauchen wir Erfolge in der Forschung«, betont etwa Bundesforschungsministerin Dr. Annette Schavan. In einem »Nationalen Forschungs­zent­rum« will die Politikerin künftig führende Ex­per­ten auf dem Gebiet der Alzheimer-Forschung unter einem Dach zusammenbringen und so den Ursachen der Krankheit auf die Schliche kommen. Ende 2008, spätestens Anfang 2009 sollen das Kompetenzzentrum und seine angeschlossenen Satelliteneinrichtungen ihre gemeinsame Arbeit aufnehmen und so der interdisziplinären De­menz­forschung in Deutschland auf die Sprünge helfen. Das Bundesforschungs­ministerium (BMBF) will dafür jährlich 50 bis 60 Millionen Euro bereit stellen. Gemessen an den gigantischen Folge­kos­ten der Krankheit in zweistelliger Milliardenhöhe ist der Betrag eher bescheiden. Aber immerhin: Die Herausforderung ist politisch erkannt und die Weichen für eine intensivere Erforschung der Demenz und ihrer Ursachen sind gestellt.

Keine Panik – »es muss nicht immer Alzheimer sein«

Dass an Alzheimer nicht gleich jeder leidet, der morgens beim Verlassen der Wohnung seinen Haustürschlüssel nicht finden kann, davon zeigt sich Professor Hans-Jürgen Möller, Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik in München und Vorsitzender der »Hirnliga«, überzeugt. Möller verweist darauf, dass schon kleinste Verände­run­gen die Funktionsfähigkeit des Gehirns beeinflussen können.

»So können etwa erhöhter Stress, schlechter Schlaf, falsche Ernährung oder Alko­hol­konsum zu einer Beeinträchtigung der Merk­fä­higkeit führen.« Der Beginn einer Alzheimer-De­menz sei das aber noch nicht. Echte Warn­signale, die auf eine Erkrankung »hinweisen«, seien hingegen Verän­derungen, die sich in letzter Zeit anhaltend eingestellt haben. »Wer sich plötzlich in fremder Um­gebung – etwa im Urlaub – nicht mehr zurecht findet oder beim Autofahren, dem Gebrauch von Schlüsseln Schwierigkeiten hat, sollte sich untersuchen lassen«, rät Experte Möller. Oft würden solche Untersuchungen zeigen, dass sich die Men­schen grundlos Sorgen ge­macht haben – es muss nicht immer gleich Alz­hei­mer sein.«

Professor Alzheimer & Auguste D.

Für den 3.11.1906 hatten die »Süd­west­deutschen Irrenärzte« zu ihrer 37. Ver­samm­lung nach Tübingen geladen. Auf dem Programm stand unter anderem der Vortrag eines gewissen Prof. Alois Alzheimer (1864 – 1915) – seines Zeichens Leiter des »Hirn­anatomischen Labora­to­riums« an der Psychiatrischen Klinik in Mün­chen. In seinem Referat beschrieb der aus Mark­breit in Bayern stammende Hirnforscher das »eigen­artige Krankheitsbild« seiner Patientin »Auguste D.«. Diese Patientin, berichtete er seinen Zuhörern, hatte keine Orien­tie­rung mehr über Zeit oder Auf­ent­haltsort, konnte sich kaum an Einzel­heiten aus ihrem Leben erinnern und gab Antworten, die in keinerlei Bezug zur Frage standen. Augustes Stimmungen wechselten ständig zwischen Angst, Misstrauen, Ablehnung und Trau­­rigkeit. Es war nicht das erste Mal, dass Alz­heimer dem Zustand geistiger Verwirrung begegnete – schon früher hatte er ähnliche Befunde erstellt, diesen aber keine Bedeutung beigemessen, weil die Patienten oft 70 Jahre und älter waren. Auguste D. aber hatte ihn neugierig gemacht, denn zum Zeitpunkt ihrer Einlieferung war sie erst 51 Jahre alt. Alzhei­mer diagnostizierte bei ihr »eine auffallende und fortschreitende Gedächt­nisschwäche«, die schließlich zum Tod der Patien­tin im Alter von 55 Jahren führte. Die Obduktion des Gehirns der Patien­tin ergab eine Reihe von Anormalitäten. So war die Hirnrinde der Patien­tin dünner als bei anderen Patien­ten gewesen. Außerdem waren dort Ablagerungen eigentümlicher Stoffwechsel­produkte in Form von Plaques zu finden. Alzheimer gab dem Krank­heits­bild in seinem Vortrag den Na­men »Krankheit des Ver­gess­ens«. Sein Mentor, der Heidel­ber­ger Psychiat­rie-Professor Emil Kraepelin, gab der mit auffälligen Veränderungen des Gehirns verknüpften Krankheit später schließlich den Namen seines Entdeckers.