Forschungszwerg Deutschland – Von der Forschung vernachlässigt: Die Krankheiten des Südens

Die Zahlen sind erschreckend: Jahr für Jahr ster­ben weltweit drei Millionen Menschen an Ma­la­ria und Tuberkulose. Über eine Milliarde – das sind ein Sechstel der Weltbevölkerung – leiden an von der Forschung vernachlässigten Tropen­krank­heiten wie Lepra oder Dengue-Fieber. Leiden, die vermeidbar wären. Denn die Entwicklung wirksamer Medikamente und Präventionsmaßnahmen wäre durchaus möglich.

Wäre – denn Krank­hei­ten, mit deren Erfor­schung sich kaum lukrativer Gewinn erzielen lässt, sind für die Pharmain­du­strie wenig interessant. Während etwa der Markt für Life-Style-Produkte in kaufkräftigen Indu­strie­nationen boomt, werden Infektions­krank­heiten, von denen besonders Entwicklungsländer betroffen sind, von der Forschung weitgehend ig­noriert. Ein trauriger Zynismus, der sich am simpelsten in der so ge­nannten »10:90-Formel« zusammenfassen lässt: Le­diglich zehn Prozent der weltweiten For­schungs­gelder im biomedizinischen Bereich werden für die Erforschung von Krankheiten eingesetzt, unter denen jedoch 90 Prozent der Welt­bevölkerung leiden. Haarausfall, Cellulite oder Erektionsstörungen zählen in der Logik des Mark­tes eben oft mehr als das Men­schen­recht auf Ge­sundheit.

Die Mitarbeiter der internationalen Hilfsorga­ni­sa­tion Ärzte ohne Grenzen bekommen diesen Forschungsmangel bei ihrer Arbeit in den ärmsten Gebieten der Erde fast täglich zu spüren. »Gerade im Bereich der Tuberkulose erleben wir immer häufiger, dass Patienten gegen die vorhandenen Medikamente Resistenzen entwickelt haben, vielen können wir deshalb gar nicht mehr helfen. Wir brauchen dringend neue Medikamente, einfache Tests und einen wirksamen Impfstoff«, sagt Frauke Jochims, Tuberkuloseexpertin der Hilfs­or­ganisation. Seit Jahren setzt sich Ärzte ohne Grenzen daher für verstärkte Anstrengungen bei der Erforschung vernachlässigter Krankheiten – zu denen auch Malaria oder Tuberkulose zählen – ein, finanziert internationale Forschungsprojekte und versucht, Politik und die weltweite Öffent­lichkeit für diese gravierende Schieflage zu sensibilisieren.

Lage in Deutschland doppelt düster

Für Deutschland hat die Organisation Ende April eine Studie vorgestellt, in der erstmals untersucht wurde, welchen Beitrag die Bundesrepublik zur Erforschung solcher Leiden leistet. Befragt wurden hierzu mehr als 30 relevante Förder- und Forschungseinrichtungen, zudem wurden über 90 Einzelförderungen analysiert. »Beschämend« sei die Situation hierzulande, so das Ergebnis des Reports mit dem aufschlussreichen Titel »For­schungs­zwerg Deutschland.« Den Berechnungen zufolge gab die deutsche Bundesregierung im Jahr 2007 lediglich 20,7 Mio. Euro für die Forschung an vernachlässigten Krankheiten aus. »Völlig un­zu­reichend«, kritisiert Oliver Moldenhauer, Spre­cher der Medikamentenkampagne von Ärzte ohne Grenzen, »Deutschland wird seiner Verant­wor­tung absolut nicht gerecht.« Die Analyse kommt zu dem Schluss, dass die Bundesrepublik selbst unter Einbeziehung der EU-Mittel im vergangenen Jahr nur 15 Prozent der Summe aufbringt, die seiner Wirtschaftskraft angemessen wäre. »Als Land, das sich selbst als exzellenten Forschungs- und Entwicklungsstandort feiert, als Land der Ideen, zudem mit der drittstärksten Wirt­schaftskraft der Welt und einer Naturwissen­schaftlerin als Kanzlerin, muss Deutschland seine Forschungsförderung massiv erhöhen, um nicht nur hierzulande, sondern weltweit für den Zugang zu lebenswichtigen Medikamenten zu sorgen«, so Moldenhauer. »Doppelt düster« sei die Lage, wenn man betrachte, was andere europäische Län­der, etwa Großbritannien oder die Nieder­lande, im Vergleich in diesem Bereich leisten – »da hängen wir wirklich weit zurück.«

Alarmierende Mängel bei Tuberkuloseforschung

Allein für Forschung an Tuberkulose müsste Deutschland nach Berechnungen der Studie jährlich mindestens 62,8 Mio. Euro veranschlagen. Von einer »weltweit entscheidenden Bedrohung« durch diese und andere Infektionskrankheiten spricht der Direktor des Max-Planck-Instituts für Infektionsbiologie, Prof. Stefan Kaufmann, im Vorwort des Forschungszwerg-Reports. Obwohl jährlich etwa 1,7 Millionen Menschen an Tuber­ku­lose sterben, habe man in den vergangenen Jahrzehnten kaum an daran geforscht; dementsprechend sei man bei den diagnostischen Werk­zeugen auch heute noch auf das von Robert Koch vor über 120 Jahren entwickelte Nachweis­ver­fahren angewiesen.

»Die Medikamente sind veraltet, außerdem haben die Keime Resistenzen gegen die Arz­nei­mittel entwickelt, so dass unsere Ärzte in vielen Fällen der Tuberkulose wie zu Zeiten von Thomas Manns Zauberberg gegenüber ste­hen«, verdeutlicht Oliver Moldenhauer. »Robert Koch würde sich im Grabe umdrehen, wenn er wüsste, wie sehr sein Heimatland im Kampf gegen diese Krankheit hinter andere Industrienationen zu­rück­gefallen ist.«

Drei zentrale Forderungen

Um diese Mängel in Zukunft zu beheben, be­darf es laut Ärzte ohne Grenzen drei zentraler Maß­nahmen. Neben massiver Erhöhung der öf­fent­lichen Forschungsförderung müsse die Bun­des­regierung verstärkt über die Schaffung alternativer Mechanismen zur Förderung von Forschung und Entwicklung nachdenken, wie etwa hoch dotierte Prämien und Preise. Darüber hinaus sei dafür zu sorgen, dass die Forschungsergebnisse auch tatsächlich bei den Ärmsten ankommen – »schließlich ist eine Pille nur dann wirksam, wenn sie in die Hände der Menschen gelangt.« Hierzu bedürfe es klarer Regelungen, die niedrigste Medi­ka­mentenpreise auch in Entwicklungsländern ermöglichen. Patente und Monopolstellungen dürften nicht zu einer künstlichen Preissteigerung führen, vielmehr müssten die Kosten für For­schung und Entwicklung vom Produktpreis für die Entwicklungsländer abgekoppelt werden, wie es auch die WHO in ihren jüngsten Stellungs­nahmen fordert.

Erfolge durch innovative Produktpartnerschaften

Eine Maßnahme, die im vergangenen Jahrzehnt bereits zu vielversprechenden Entwicklungen neuer Medikamente für vernachlässigte Krank­heiten beigetragen hat, sind die so genannten »Pri­vate-Public Product Development Partner­ships«, also Produktentwicklungspartnerschaften zwischen Nichtregierungsorganisationen oder Stif­tun­gen und der Pharmaindustrie. Die Beson­der­heit solcher Abkommen: Hier müssen die For­schungs- und Entwicklungskosten nicht wie sonst üblich nachträglich durch den Verkauf der Me­di­kamente eingespielt werden, sondern werden direkt finanziert.

Ein erfolgreiches Beispiel für eine solches Bündnis ist die 2003 von Ärzte ohne Grenzen sowie fünf weiteren Forschungs- und Gesund­heits­institutionen aus Frankreich, Indien, Malay­sia, Kenia und Brasilien gegründete »Drugs for Ne­glected Diseases Initiative« (DNDi). »Wir setzten in unserer Arbeit konkret auf den Aufbau regionaler Forschungsnetzwerke vor Ort, und wollen so auch die Hilfe zur Selbsthilfe ankurbeln«, betont Ann-Marie Sevcsik, Spre­che­rin der DNDi. Einen Durchbruch mit weltweiter Signal­wirkung konnte die Initiative 2007 erzielen, als sie zusammen mit der Pharmafirma Sanofi-Aventis das von vornherein patentfreie »Open-Scour­ce-Me­dikament« ASAQ für die Behand­lung von Ma­laria auf den Markt brachte. Ein weiteres Präparat folgte im Frühjahr dieses Jahres.

Die Politik: Große Worte – Wenig Taten

Die Notwendigkeit, Arzneimittel für vernachlässigte Krankheiten zu entwickeln, wird nicht zuletzt durch solche Erfolgsmeldungen zunehmend von der Öffentlichkeit erkannt. Zudem bieten innovative Partnerschaften wiese diese die Mög­lichkeit, auch die Pharmaunternehmen verstärkt zur Verantwortung zu ziehen. Dennoch, so die zentrale Kritik der Ärzte-Ohne-Grenzen-Studie, sei bis auf »große Worte« von politischer Seite bisher wenig geschehen, um dem dramatischen Forschungsdefizit beizukommen. »Bis auf wenigen Ausnahmen scheint deutsche Politiker das Schicksal von Patienten außerhalb der Lan­des­grenzen wenig zu kümmern«, kritisiert Oliver Moldenhauer. Zudem gebe es in Deutsch­land ein »massives Zuständigkeitsproblem« zwischen den Bundesministerien für Forschung, Gesundheit und Entwicklung, was am Ende dazu führe, dass sich niemand wirklich verantwortlich fühle. Die von ihnen zur Verfügung gestellten Mittel beurteilt Ärzte ohne Grenzen dementsprechend als »verschwindend gering«. Das Bundesmini­ste­rium für Bildung und Forschung beteiligt sich immerhin am »European and Developing Coun­tries Trials Partnership« (ECTP), ein EU-Projekt, das im Jahre 2003 als Reaktion auf die alarmierende Aus­breitung von HIV/Aids, Malaria und Tu­ber­kulose ins Leben gerufen wurde, um klinische Studien, Impfstoffe und neue Medikamente gegen diese Leiden zu entwickeln.

Hilfsorganisationen kritisieren Patentrecht

Vielen Hilfsorganisationen oder privaten Stif­tungen gehen solche Projekte jedoch nicht weit genug. Brot für die Welt, medico international und die BUKO-Pharmakampagne beispielsweise fordern in ihrer »Berliner Erklärung« vom Mai 2007 eine verstärkte öffentliche und staatliche Regu­lie­rung der Forschung zu vernachlässigten Krank­hei­ten weltweit und kritisieren in diesem Zusam­men­hang vor allem die Patentrechte der Phar­ma­kon­zerne. »Die Vorstellung, über eine globale Har­monisierung des Patentschutzes den Zugang zu Arzneimitteln verbessern zu können, ist ein gefährlicher Irrglaube, der vielen Menschen den Tod bringen wird, da sie durch ein verschärftes Patentrecht nur schwerlich Zugang zu lebenserhaltenden Medikamenten bekommen,« ist Bernd Eichner von medico international überzeugt. Außerdem gäben Pharmakonzerne weltweit im Schnitt doppelt soviel Geld für Werbung wie für die Forschung aus, so ein weiterer Vorwurf. »Arz­nei­mittel werden nicht nach medizinischer Dring­lich­keit, sondern nach den Gewinn­aus­sichten produziert. Das Menschenrecht auf Ge­sund­heit und die kommerziellen Interessen der Pharmain­dustrie stehen damit in krassem Wi­der­spruch zueinander«, so Eichner. Nach Angaben des US-Gesundheitsministeriums bringt nur je­des vierte weltweit auf den Markt gebrachte Me­dikament auch tatsächlich irgendeinen therapeutischen Fort­schritt; der Rest seien »Schein­inno­va­tionen« oder Life-Style-Präparate.

Beim Verband Forschender Arzneimit­tel­her­steller Deutschlands möchte man solche Vor­würfe nicht gelten lassen. Hauptgeschäfts­füh­rerin Cornelia Yzer spricht vielmehr von einer »Trendwende«, die sich in den vergangenen Jahren in der Arz­nei­mittelforschung für Ent­wicklungsländer vollzogen habe. Sie wehrt sich gegen »Pauschalattacken auf den Patentschutz oder die Pharmaindustrie«, eine Bekämpfung von Armut und Krankheit weltweit sei schließlich nur dann möglich, »wenn auch die betroffenen Län­der selbst Interesse an der Überwindung ihrer Probleme erkennen lassen.« Solange jedoch das Patentrecht als eine Art Schutzwall verstanden wird, sterben weiterhin Jahr für Jahr Millionen von Menschen auf dieser Erde eines vermeidbaren Todes. Allein eine Wende in der globalen Me­dikamentenpolitik wird dieses sinnlose Leiden langfristig beenden können.

Der Report »Forschungszwerg Deutschland«: http://www.aerzte-ohne-grenzen.de/Medikamentenkam­pag­ne/Publikationen.php 
Mehr Informationen zur Drugs for Negelcted Diseases Ini­tia­tive (DNDi) unter: http://www.dndi.org
European and Developing Countries Clinical Trials Partnership (EDCTP): http://www.edctp.org
Die vollständige »Berliner Erklärung« mit einem Plädoyer für eine Wende in der Medika­men­tenpolitik ist einzusehen unter: http://www.medi­co.de/­the­men/gesundheit/phar­ma/do­ku­mente/eine-frage-des-allgemeinwohls/12/