Auf der Suche nach dem optimalen System: Prof. Dr. Reinhard Busse – Ein Portrait

Ruhe im Chaos

Sein Schreibtisch ist ein Schlachtfeld. Papiere, Ordner, Bücher, Broschüren, Hefter, Unterlagen schieben sich ineinander, türmen sich auf, scheinen ineinander zu stürzen. Es sind sogar zwei nebeneinander geschobene, riesige Tische, über die sich diese Masse aus Druckerzeugnissen er­gießt. Die Stapel machen an den Tischkanten nicht halt, wuchern um die Tischbeine herum auf dem Tep­pichboden kniehoch weiter. In diesem Tohu­wa­bohu im fünften Stockwerk unter dem Dach der TU Berlin sitzt seelenruhig Reinhard Busse, hellblaues Kurzarm-Hemd zur grauen Anzug­ho­se, und tippt konzentriert mit zwei Fingern auf seine Computer-Tastatur ein. Diesem Mann kann Chaos nichts anhaben, das spürt der Besucher schnell.

Nach einem Treffen mit Busse, das dann doch besser ins Konferenzzimmer verlegt wird, geht man klarer, als man gekommen ist. Beglückt geradezu von der so überraschenden wie erleichternden Erkenntnis, dass unserer Gesundheitssystem eigentlich einfach zu verstehen und auch zu reformieren ist. Dabei spricht der 45-Jährige Professor für Management im Gesundheitswesen nicht ge­rade fesselnd von seinem Forschungsge­gen­stand. Aus seinem Körper scheint beim Reden über das Gesundheitswesen sämtliche Dynamik zu weichen. Seine blauen Augen sind beim Er­klären halb geschlossen, streifen selten den Blick seines Ge­sprächspartners, verlieren sich an einem fernen Punkt im Raum.

Komplexe Systeme knacken

Aber dort scheint Busse etwas zu sehen, vermutlich so eine Art imaginären Maschinenraum des Gesundheitssystems. Man begreift bald, dass aus seinem Körper gar nicht sämtliche Energie entwichen ist, sondern sie hat sich hinter seiner Stirn konzentriert, wo offenbar eine Art Super­com­puter die ganze Zeit über Formeln durch 27 europäische plus weitere internationale Gesund­heits­systeme jagt, vergleicht, rechnet, um dann eine verständliche Antwort auszuspucken. Jedem, der bereits an unserem komplexen System verzweifelt, könnte die Beschäftigung mit 27 europäischen Gesundheitswesen endgültig den Durch­blick verstellen. Doch Busses Sicht auf Steuerung und Fehler jedes Systems wird dadurch geschärft. Erst der Vergleich etwa von Fallpauschalen in mehreren Ländern macht für ihn eine objektive, empirische Bewertung möglich.

Es ist vor allem Busses Gabe, komplexe Syste­me sofort in ihre relevanten Einzelteile zu zerlegen, die beim Zuhören so fasziniert. Plötzlich ist jede Komponente für sich kinderleicht zu begreifen. Dabei vereinfacht er keineswegs. Er be­herrscht vielmehr eine chirurgisch präzise Art zu denken und zu analysieren, auf das Wesentliche zu fokussieren. »Wir schauen, an welchen Stellschrauben noch gedreht werden muss, damit unser Gesund­heits­wesen besser wird«, erklärt der Gesund­heits­ökonom mit dem strubbelig kurz gestutzten Voll­bart seine Forschung, während die Finger seiner rechten Hand sich auf der Tischplatte aufstellen und drehende Bewegungen im Uhrzeigersinn vollziehen. Optimierung ist ein Wort, das häufig fällt, wenn man sich mit dem 45-Jährigen unterhält.

Nach der Reform ist vor der Reform

Er versteht nicht, warum alle über ständige Re­for­men im Gesundheitswesen stöhnen: »Natür­lich muss so ein System sich immer verändern. Erstens, weil neue Technologien kommen sowie neues Wissen, was besser und gerechter ist, zweitens, weil viele Maßnahmen sich abnutzen.« Eine ultimative Gesundheitsreform, nach der unserer System perfekt ist, gebe es genauso wenig wie das beste Gesundheitssystem, nach dem er immer ge­fragt werde, wiegelt Busse derartige Sehnsüchte ab.

Im übrigen sei unseres gar nicht so schlecht: »Wir haben ein hocheffizientes System, was die Kosten pro erbrachter Leistung angeht. Die Qualität stimmt auch. Unser Problem ist, dass wir zu viele unangemessene Leistungen in die Welt setzen«. Nicht das einzelne Röntgenbild oder der Krankenhausaufenthalt sind zu teuer, aber wir machen zu viele Röntgenbilder. Die überflüssigen Leistungen zu identifizieren, darin liegt für ihn eine der großen Herausforderungen. Mehr Geld ins System zu pumpen sei nicht die bessere Lö­sung.

Mission intelligentes Gesundheitswesen

Mit seiner Forschung an der TU Berlin verfolgt Busse eine klare Mission: »mehr Gesundheit für den Bürger raus holen, aber immer in Bezug zu den eingesetzten Ressourcen.« Der Professor für Management im Gesundheitswesen denkt wie ein Ökonom, argumentiert aber nicht in erster Linie betriebswirtschaftlich, sondern vor allem als Mediziner im Dienste der Gesundheit: »Busse will ein für alle Beteiligten besseres, transparenteres, intelligentes Gesundheitswesen«, sagt sein wissen­schaftlicher Ziehvater Friedrich Wilhelm Schwartz, Direktor am Institut für Epidemiologie, Sozial­medizin und Gesundheitssystemforschung an der Medizinischen Hochschule Hannover. Busse hat bei ihm fünf Jahre wissenschaftlich gearbeitet und auch habilitiert. Bereits in den ersten Semestern seines Medizin­stu­diums, das er in Marburg sowie an der Harvard Medical School in Boston und der University of London absolvierte, hat er sich überlegt: »Ich kann den Blutzucker von 10-30 Diabetikern pro Tag einstellen oder mich insgesamt um eine bessere medizinische Versorgung von Diabetikern küm­mern.«

Er wollte unbedingt zweiteres. Seine Kom­mi­li­to­nen hielten ihn deshalb für ziemlich obskur, zumal es Public Health damals in Deutschland noch nicht gab. Doch als der Medizinstudent 1990 Examen macht, hat Bielefeld mit dem Aufbau eines Public-Health-Studiengangs begonnen, Han­nover folgt gerade. Busse packt die Chance beim Schopf, geht direkt nach Hannover zu Schwartz: »Wir waren damals echte Exoten und Pioniere«, erinnert er sich.

Gesundheit kennt keine Grenzen

Da nach seiner Habilitation vor knapp zehn Jahren nicht gleich der erwünschte Ruf für einen Lehrstuhl kommt, nimmt der damals 36-Jährige Public-Health-Experte eine Stelle als Leiter beim neu gegründeten »European Observatory on Health Care Systems« in Madrid an. Das europäische Zentrum wird von der WHO, der Weltbank und europäischen Regierungen betrieben. Zwei Jahre lang ist er ununterbrochen in den Ländern Euro­pas unterwegs, um Daten über die Gesund­heits­systeme zu sammeln und auszuwerten. Drei Tage nach seinem 39. Geburtstag im April 2002 kommt dann der ersehnte Ruf an den Lehrstuhl für Ma­nagement im Gesundheitswesen der TU Ber­lin.

Er ist einer der Professoren, die mit dem Fahr­rad, ohne Anzug und Krawatte zur Uni kommen. Seit dem Umzug von Madrid wohnt er in den Hackeschen Höfen in Berlin Mitte. Am Wochen­ende pendelt er zu seiner Lebensgefährtin nach Hamburg oder entspannt einfach nur auf seinem Balkon. Wenn das Gespräch auf andere Themen als Gesundheit kommt, gerät plötzlich Busses Körper in Schwung, seine blauen Augen suchen nun den Blickkontakt. Er macht gern Witze, wirkt wie ein vergnügter Mensch, der gelassen in sich ruht. »Ja«, gesteht er freimütig und grinst, »privat wird mir sogar manchmal vorgeworfen, das mich nichts in Rage bringen kann.«

Im Lager der Undogmatischen

Dass er heute als einer der wenigen deutschen Public-Health-Experten vor allem international forscht, daran haben auch seine Eltern einen An­teil. Sie öffneten ihm schon als Kind den Blick für andere Länder und Kulturen. Als er fünf Jah­re alt war, zog seine Familie aus seinem Ge­burtsort Ha­meln an der Weser nach Ankara in die Türkei. Sein Vater hat dort an der Pädagogischen Hochschule Deutschlehrer ausgebildet. Reinhard Busse und sein jüngerer Bruder gingen ab der ersten Klasse auf die Deutsche Botschaftsschule in Ankara, wo sie mit Mitschülern aus vielen Ländern im Klas­sen­raum zusammensaßen.

»Ich habe dadurch gelernt, Menschen aus anderen Kulturen zu begegnen und mit offenen Augen vorurteilsfrei an Dinge heranzugehen«, erzählt Busse. Das verdanke er vor allem seinen Eltern und den vier schönen Jahren in Ankara. Diese Er­fah­rung hat sein Denken geprägt: »Es hat mich ins La­ger der Undogmatischen gebracht, fertigen Ide­o­lo­gien stehe ich skeptisch gegenüber«, erklärt er.

So beschreiben ihn auch andere: »Er ist Indivi­du­alist, ein Non-Konformist und in der Szene der Gesundheitsökonomen ein eigenständiger Den­ker«, findet Günther Jonitz, Präsident der Berli­ner Ärztekammer. Er schätzt Köpfe wie Busse im Gesundheitswesen: »Von ihm kriegen sie keine Ge­fälligkeitsgutachten.« Auch parteipolitisch lässt Busse sich nicht vereinnahmen. Zwei Jahre lang hat er zwar während der rot-grünen Re­gierungs­zeit die Bundestagfraktion von Bündnis 90/Die Grünen in Gesundheitspolitik beraten, aber nur, weil die ihn darum gebeten hatten. Er hätte das auch für andere Fraktionen getan.

Aus der Forschung in das Leben

Wenn wichtige Reformen anstehen, wird er regelmäßig als Sachverständiger vom Gesund­heits­sausschuss des Bundestags gehört, auch Ministerin Ulla Schmidt lässt ihn gern rufen. Er schwingt sich dann auf sein Fahrrad und kommt: »Es war mir von Anfang an wichtig, dass das, was wir erforschen, wieder in die Politik zurückgespiegelt wird und sich in Reformen niederschlägt«.

Aber nicht um jeden Preis. Busse gehörte auch dem sechsköpfigen Beirat an, der für den geplanten Gesundheitsfond berechnen sollte, wie der Finanzausgleich für Krankheitsrisiken, Morbidi­täts-Risikostrukturausgleich genannt, gestaltet werden muss. Der ganze Beirat ist Ende März geschlossen zurückgetreten. »Die Spannung zwischen dem, was das Ministerium erwartet hatte, und dem, was wir verantworten konnten auf Grundlage unser Ergebnisse, war zu groß«, be­grün­det er gelassen. Das wollte er nicht mit seinem Namen verbunden wissen.

So ruhig gestimmt Busse im Gespräch er­scheint, beruflich läuft er hochtourig: Er arbeitet im Beirat der Bundesärztekammer mit, im wissenschaftlichen Beirat des Bundesverbands der Be­trieb­krankenkassen BKK, beim Berliner »Spree­stadt-Forum«, wo sich interdisziplinär Experten über die Gesundheitssysteme in Europa austauschen, er ist Dozent für den Masterstudiengang der »Berlin School of Public Health«, die zuvor an der TU angesiedelt war.

Europäische Modelle für die Welt

Für das europäische WHO-Zentrum arbeitet er weiter als einer der Direktoren. Mit seiner Publi­ka­tionsliste der vergangenen zehn Jahre könnte man ein Einfamilienhaus tapezieren. Gerade ist er aus Hongkong zurück, wo er über die europäischen Erfahrungen mit der Finanzierung durch Sozialversicherungsbeiträge referierte, aktuell be­reitet er für Ende Juni eine Konferenz in Tallinn für alle europäischen Gesundheitsminister vor.

Beim Abschied von Busse fällt ein letzter Blick auf seinen Schreibtisch, das Chaos wirkt plötzlich fast normal. Vielleicht hier und dort zwei Griffe – man beginnt unbewusst, in Gedanken Ordnung zu schaffen und merkt, dass der 45-Jährige einen mit seiner Art zu denken bereits infiziert hat. Am liebsten möchte man gleich selbst bei der nächsten Re­form anpacken, ein paar Stellschrauben drehen, schon wäre die medizinische Versorgung in Deutschland noch besser und günstiger.

Prof. Dr. med. Reinhard Busse, MPH FFPH

Geboren: 26. März 1963 in Hameln/Weser
1984-1990 Studium Medizin, Philipps Universität Marburg, Harvard Medical School Boston und United Medical & Dental Schools of Guy`s and St. Thomss Hospitals London
1991-1993 Studium »Bevölke­rungs­medizin und Gesund­heits­wesen (Public Health) Me­di­zi­nische Hochschule Hannover, Master sanitatis publicae
1992-1994 Ärztliche und wissenschaftliche Tätigkeit Rheu­matologie Medizinische Hoch­schule Hannover
1994 Approbation als Arzt
1994-1999 Wissenschaftliche Tätigkeit Abteilung »Epide­mio­logie, Sozialmedizin und Ge­sundheitssystemforschung, Me­dizinische Hochschule Hanno­ver
1996-1997 Visiting Fellow London School of Economics and Political Science
1999 Habilitation Gesundheits­systemforschung
1999-2002 Leiter European Observatory on Health Care Systems, Madrid
seit 2002 Universitätsprofessor (C4) »Management im Gesund­heitswesen« und Dekan an der TU-Berlin
ledig, keine Kinder