Alt, Krank und selbstbestimmt

Wissenschaftler aus sieben Berliner Forschungseinrichtungen suchen nach den Zusammenhängen von Lebensqualität und Autonomie bei alten, multimorbiden Menschen.

Marga Lindemann*) lebt in einer Kleinstadt mit 4.500 Seelen, südlich von Frankfurt/Oder. Die 79-Jährge bewohnt die erste Etage ihres über 200 Jahre alten stattlichen Elternhauses im Ortskern. Hier hat sie nahezu ihr ganzes Leben verbracht, zunächst mit Eltern und Geschwistern, später mit Mann und Sohn. Seit 1990 unerwartet ihr Mann und ihr Sohn starben, ist sie allein. Schwiegertochter und Enkel zogen in den Westen. Die Gewerberäume im Erdgeschoss stehen leer. Dem Ärger, weil die Mieter nicht zahlen, mag sie sich nicht mehr aussetzen. In der Stadt gibt es nur noch eine Schwester und die alten Bekannten, die alle selbst in die Jahre gekommen und gesundheitlich nicht besonders fit sind.

Ganz ihrer preußisch-protestantischen Erziehung verpflichtet, lässt sich Frau Lindemann ihre Beschwerden nicht anmerken. Es gibt zwar eine Zentralheizung, aber um Kosten zu sparen, denn sie hat nur eine kleine Rente, und aus alter Gewohnheit, heizt sie im Winter den alten Kachelofen. Als sie vor einigen Monaten mit Kohleneimer und Holz im Arm auf der Kellertreppe ausrutschte und sich den Kopf stieß, lag sie längere Zeit bewusstlos auf dem Boden und zog sich eine heftige Erkältung zu. Raus geht sie auch nicht mehr gerne. Dafür tun ihr ihre Knie zu weh und oft wird die Luft knapp. „Man muss sich selbst nicht so wichtig nehmen“, sagt sie. „Wenn Schluss ist, dann ist eben Schluss.“ Wie lange sie hier noch alleine wohnen kann, weiß sie nicht.

Doch wenn sich das Altern und die damit einher gehenden Einschränkungen und Krankheiten schon nicht verhindern lassen, so sollte wenigstens die Lebensqualität dabei so gut wie möglich sein. Was dafür nötig ist, darüber weiß man bisher wenig. Konsens ist zumindest der Wunsch, so lange wie möglich autonom zu leben – auch wenn der Körper wegen immer mehr Gebrechen nicht mehr richtig mitmacht. Während sich die Altersentwicklung gut vorhersagen lässt, gibt es über Multimorbidität im Alter kaum konkrete Zahlen. Laut amtlicher Statistik sind 17,9 Prozent der Berliner, also 609.316 Personen, 65 Jahre und älter. 1999 lag ihr Anteil noch bei 14,2 Prozent. Ein Indikator für dauerhafte Erkrankungen ist der Pflegebedarf, der bei rund 78.000 Berlinern in dieser Altersgruppe anerkannt ist. Sicher ist auch, dass ein „Weiter wie bisher!“ angesichts klammer Sozialkassen und geringerem Einkommen im Alter in die Sackgasse führt.

Aus weniger mehr machen

Wie aber sollen Politik und Gesellschaft dem demografischen Wandel begegnen? Was wird in den nächsten Jahren und Jahrzehnten neben einer geriatrischen Spezialisierung der Schulmedizin noch gebraucht? Hier ist die Alterns- und Alterswissenschaft, die Gerontologie, gefragt. Denn letztlich ist Autonomie im Alter und trotz mehrfacher Erkrankungen nicht nur eine Frage der Lebensqualität, sondern auch der Bezahlbarkeit: Von den 75- bis 84-Jährigen erhält nahezu jeder Dritte ergänzende „Hilfe zur Pflege“ vom Sozialamt. Bei den noch Älteren sind es mit 97,1 Prozent fast alle. Im Jahr 2030, so prognostiziert die Senatsverwaltung für Gesundheit, wird Berlin bei gleichen Standards 450 Millionen Euro, ein Drittel mehr als heute, dafür ausgeben.

Jetzt geht es darum, zu reagieren. Vor zwei Jahren schrieb das Bundesforschungsministerium die Schwerpunktförderung „Gesundheit im Alter“ aus. Insgesamt rund 16 Millionen Euro investiert das Ministerium von 2007 bis 2010 in sechs nationale Verbünde. Einer davon ist der Berliner Forschungsverbund „Autonomie trotz Multimorbidität im Alter“ (AMA), der mit über 2,7 Millionen Euro gefördert wird. Zu AMA gehören sieben Projekte, die sich mit sehr verschiedenen Perspektiven auf das Alter befassen. „Tatsache ist, dass trotz verbesserter Lebenslagen und medizinischen Fortschritts Erkrankungen im Alter häufiger auftreten. Zugleich ist das Krankheitsgeschehen zumeist von einem chronischen Verlauf und dem Auftreten mehrerer Krankheiten gleichzeitig gekennzeichnet. Damit einher gehen zudem oft Gesundheitsprobleme wie Schmerz oder Schlafstörungen, die zusätzlich die Lebensqualität beeinflussen“, erläutert Dr. Stefanie Richter. Sie ist Mitarbeiterin des Charité-Instituts für Medizinische Soziologie und leitet die AMA-Geschäftsstelle. Mehrfacherkrankungen seien bisher in ihrer Komplexität viel zu wenig erforscht, so die Gesundheitswissenschaftlerin weiter. Darüber hinaus bestehe ein großes Forschungsdefizit in der Analyse von Ressourcen und deren protektive Wirkung auf die Autonomie und Lebensqualität älterer erkrankter Menschen. AMA sei davon geleitet, einen Beitrag zu leisten für die Erhaltung und Förderung der Autonomie und Lebensqualität.

Besonders innovativ ist der AMA-Forschungsverbund wegen seiner interdisziplinären Ausrichtung. Was bei alten Menschen trotz mehrfacher Erkrankungen die Autonomie erhält, kann nämlich ganz unterschiedlich sein: Eine gute Pflegequalität, Erfahrungswissen, Netzwerke in der Nachbarschaft oder andere gesundheitsfördernde Aspekte. Wenn es gelingt, die Forschungsergebnisse ein Stück weit miteinander zu verknüpfen, kann daraus bis 2010 ein völlig neuer Ansatz entstehen. Die Auftaktveranstaltung im März 2008 und der rege Austausch der Netzwerkpartner auf Versammlungen und in Arbeitsgruppen verspricht laut Projektkoordinatorin Richter jedenfalls einen erfolgreichen Verlauf. Den Umgang und die Zusammenarbeit der Wissenschaftler, die aus sehr unterschiedlichen Disziplinen kommen, bezeichnet sie als sehr produktiv und tolerant.

Theorie und Praxis verbinden

Sollte ab 2011 eine zweite Förderphase zustande kommen, wird es praktisch. Mit Modellprojekten würden dann die gewonnenen Erkenntnisse erprobt und evaluiert.

Für Marga Lindemann kommen diese Erkenntnisse wohl zu spät. Doch einige hundert Senioren, die 100 Kilometer weiter westlich in Berlin-Friedrichsfelde wohnen, zeigen heute schon, dass Lebensqualität im Alter nicht nur eine Frage der Gesundheit und des Portmonees sein muss. Viele von ihnen leben in ihren meist bescheidenen Ein- und Zweiraumwohnungen, verfügen aber über ein gut ausgebautes Netzwerk, das der Verein „Miteinander wohnen“ organisiert. Seine Räume sind im Erdgeschoss eines der 17-geschossigen Plattenbauten an der Lichtenberger Volkradstraße. In den letzten 16 Jahren haben die rund hundert ehrenamtlichen Mitarbeiter für sich eine Menge auf die Beine gestellt: Ein tägliches Programm mit Sport- und Kulturveranstaltungen, Besuchsdienste, Betreuung, Nachbarschaftsangebote mit ABM-Kräften. Der Verein hat eine ganze Versorgungskette für Senioren aufgebaut. „Alte Menschen brauchen nicht gleich zu Beginn alle Hilfen. Oft genügt schon mal beim Einkauf ein Arm zum Einhaken oder ein Gesprächspartner.“ Aber gerade diese Dienste seien nicht selbstverständlich, sagt die Gründerin und Vorsitzende des Seniorenprojekts, Gudrun Hirche. Gleich nebenan betreibt der Verein zusammen mit anderen Trägern ein Pflegewohnheim. „Als wir 1994 das Heim vom Bezirk übernahmen, zog bei uns im Wohngebiet Ruhe ein. Die Angst ‚Was wird aus mir, wenn ich pflegebedürftig werde?‘ war vorbei. Für alte Menschen ist das überlebenswichtig“, erinnert sich die heute 83-Jährige. 90 Prozent der von Miteinander wohnen e.V. Betreuten leben bis zuletzt in ihrer Wohnung. Mit knapp 40 Mitgliedern hat auch der vereinseigene „Club der aktiven 90-Jährigen“ regen Zulauf. So schön kann Altern sein.

*) Name geändert.

Der Verbund, der nach außen von den drei Sprechern Prof. Dr. Adelheid Kuhlmey, Prof. Dr. Clemens Tesch-Römer, Prof. Dr. Matthias Riepe vertreten wird, besteht aus insgesamt sieben Projekten:

Epidemiologen des Robert-Koch-Instituts unter der Leitung von Dr. Christa Scheidt-Nave und der Charité (Leitung: Prof. Dr. Peter Martus) entwickeln im Teilprojekt OMAHA (Operationalisierung von Multimorbidität und Autonomie für die Versorgungsforschung in alternden Populationen) einen konzeptionellen Rahmen, um die verschiedenen Dimensionen von Autonomie und Multimorbidität bei alten Menschen beschreiben zu können.

Mit der Fragestellung „Demenz und Multimorbidität bei Migranten mit nicht-deutscher Muttersprache im urbanen Raum“ befasst sich MIGRANT-DEM unter der Leitung des Gerontopsychiaters Prof. Dr. Matthias Riepe, der kürzlich von der Charité nach Günzburg/Ulm wechselte.

Das Teilprojekt PREFER erforscht, welche psychosozialen Ressourcen bei älteren, multimorbiden Menschen Autonomie und Lebensqualität ermöglichen, deren eigene Vorstellungen und Überzeugungen vom Älterwerden und wie diese mit ihrem Lebensstil zusammenhängen. Leiterin des Kooperationsprojekts, an dem das Deutsche Zentrum für Altersfragen und die FU beteiligt sind, ist Dr. Susanne Wurm.

Im Teilprojekt NEIGHBOURHOOD geht es um die sozialräumlichen Einflüsse auf den Autonomieerhalt multimorbider älterer Menschen in sozial benachteiligten Quartieren, vor allem nach Stürzen. Beteiligt sind die Public-Health-Forschungsgruppe des Wissenschaftszentrums Berlin unter der Leitung von Prof. Dr. Rolf Rosenbrock und Dr. Susanne Kümpers sowie das Institut für Gerontologische Forschung (Dr. Marianne Heinemann-Knoch und Dr. Josefine Heusinger).

Mit Schlafstörungen und Multimorbidität bei alten Menschen in Pflegeheimen befasst sich INSOMNIA. Dieses wenig erforschte Problem macht alten Menschen häufig aufgrund sehr verschiedener Begleitumstände wie Medikamentennebenwirkungen, Gesundheitsproblemen oder ihrer veränderten Lebenssituation zu schaffen. INSOMNIA wird von Prof. Dr. Vjenka Garms-Homolová und Prof. Dr. Uwe Flick (Alice-Salomon-Hochschule) geleitet.

Beim Teilprojekt PAIN geht es schließlich um das Phänomen Schmerz bei mehrfach erkrankten Pflegeheimbewohnern und dessen Wechselbeziehungen zu Multimorbidität und Autonomie. Geleitet wird PAIN von der Medizinsoziologin Dr. Dagmar Dräger und dem Pharmakologen Prof. Dr. Reinhold Kreutz, beide Charité.

Das Projekt AMA-INTEGRATION unter der Leitung von FU-Medizinsoziologin Prof. Dr. Adelheid Kuhlmey hat eine verbindende Funktion und soll die Arbeit der sechs inhaltlichen Projekte zusammenführen. Hierzu gehören die Koordination der Verbundarbeit, Methodenberatung und vor allem die wissenschaftliche Zusammenführung der Projektergebnisse.