Kein Anhängsel der Ärzte

Das neue Selbstbewusstsein der Pflege –  Der Arzt als väterliche Autorität, die Krankenschwester als dienstbarer Geist im Schatten eines Halbgottes in Weiß. Das war einmal. Die Professionalisierung der Pflege, die Ende der 80er Jahre einsetzte, stellt die ärztliche Vorrangstellung im deutschen Gesundheitssystem in Frage. Etliche Pflegekräfte haben inzwischen Pflegewissenschaft oder Pflegemanagement, Pflegepädagogik oder „Nursing Science“ studiert und arbeiten mit wissenschaftlich geprüften Pflegestandards. In der Pflege ist ein neues Selbstbewusstsein entstanden. Pflegende wollen nicht mehr nur „Mädchen für alles“ sein, Toilettenstühle leeren, Nägel feilen, Brote schmieren – und dem Arzt hinterherräumen.

Machtkämpfe und Boykott-Haltung

Da lassen Konflikte zwischen Ärzten und Pflegenden nicht lange auf sich warten. Machtkämpfe zwischen beiden Berufsgruppen sind im Krankenhaus an der Tagesordnung. „Ärzte beklagen immer wieder eine Boykott-Haltung der Pflegenden“, sagt Prof. Sabine Bartholomeyczik vom Institut für Pflegewissenschaft an der Universität Witten/Herdecke. „Und Pflegende haben das Gefühl, sie müssen immer nur für die Ärzte rennen, ohne für ihre Arbeit geschätzt zu werden.“ So ärgert sich zum Beispiel eine Krankenschwester: „Uns werden immer mehr Aufgaben in die Schuhe geschoben. Wie Sekretärinnen sollen wir zum Beispiel Befunde abheften, die die Ärzte haben liegen lassen, oder auf Zuruf – ohne schriftliche Anordnung – Medikamente spritzen.“ Kommentarlos würden alle möglichen Tätigkeiten von den Ärzten an die Pflegenden weitergereicht.

 Informelle Arrangements statt klarer Absprachen

„In vielen Häusern sind die Zuständigkeiten an den Schnittstellen nicht geklärt und sorgen für Konflikte“, bestätigt Dr. Andrea Wittich, Diplom-Psychologin und Supervisorin am Universitätsklinikum Freiburg. Den Verbandwagen packen und wieder auffüllen, Akten zu einer anderen Station bringen, Aufklärung der Patienten über Stationsverhältnisse – Beispiele für Aufgaben, die hin- und hergeschoben werden. Selbst die Frage, wer die Kaffeetassen in die Spülmaschine räumt, kann zum Zündstoff werden. Statt klarer Absprachen ist die Zusammenarbeit zwischen Ärzten und Pflegenden oft durch informelle Arrangements gekennzeichnet – nach dem Motto: „Schwester, können Sie das heute mal übernehmen?“

In ihrer Dissertation von 2004 hat Dr. Wittich Pflegende danach befragt, was sie belastet. Neben hohem Arbeitsanfall, zu wenig Personal, organisatorischen Bedingungen und Arbeitsklima im Pflegeteam rangieren auch die Konflikte mit den Ärzten als Belastungsfaktor weit oben. Im Krankenpflegereport 2000 (DAK-BGW) berichteten von 1.017 Pflegenden ein Viertel der in der Normalpflege Beschäftigten, dass die Zusammenarbeit mit den Ärzten gestört ist. Verstärkt werden die Reibereien durch die hohe Arbeitsdichte und den enormen Zeitdruck.

Polarisierung im Tarifstreit

Auch die Ärztestreiks und Tarifforderungen der Ärzte polarisieren die Berufsgruppen: „Da werden auf der einen Seite aus Kostengründen Pflegestellen gestrichen“, sagt Dr. Wittich. „Auf der anderen Seite fordern die Ärzte höhere Gehälter und klinken sich aus der Tarifgemeinschaft aus.“ Das haben viele Pflegende, so Wittich, als unsolidarisch empfunden. Tatsächlich befürchten Vertreter der Pflegeverbände, dass höhere Gehaltszahlungen an Klinikärzte durch Stellenabbau – vorzugsweise in der Pflege – kompensiert werden. Sind doch in den letzten zehn Jahren 55.000 Pflege-Vollzeitstellen weggefallen – gleichzeitig müssen etwa eine Millionen Patienten mehr versorgt werden. Zum Vergleich: 19.000 Arztstellen sind in dieser Zeitspanne hinzugekommen. „Hier handelt es sich um einen Verschiebebahnhof, der bisher ausschließlich zu Lasten der Pflege ging“, kritisiert Marie-Luise Müller. Sie ist die Präsidentin des Deutschen Pflegerates (DPR), dem zwölf Verbände angehören und der die Belange der Pflege in Deutschland vertritt.

Mehr Autonomie für die Pflege

Für neuen Wirbel sorgt seit Juli 2007 das Gutachten des Sachverständigenrates für das Gesundheitswesen. Es rüttelt an der Vorrangstellung der ärztlichen Profession im deutschen Gesundheitswesen, indem es einen Neuzuschnitt aller Gesundheitsberufe empfiehlt. „Die Professionen können nicht mehr so arbeiten wie vor hundert Jahren“, betont Prof. Adelheid Kuhlmey, Direktorin des Instituts für Medizinische Soziologie an der Charité Universitätsmedizin Berlin und Mitglied im Sachverständigenrat. „Ohne ein Mehr an Autonomie für die Pflege, aber auch für andere Gesundheitsberufe, kann eine gute Patientenversorgung in Zukunft nicht mehr gewährleistet werden.“

Verschreibungsrecht für die Pflege

Pflegekräfte sollen künftig Hilfsmittel wie Wundauflagen oder Bandagen, eventuell auch bestimmte Medikamente eigenständig verschreiben dürfen. Das ist bisher nur Ärzten vorbehalten. Die Sachverständigen stellen außerdem zur Diskussion, inwieweit nicht ärztliches Personal weitere bisher ärztliche Aufgaben, wie Blutentnahmen, Injektionen und Infusionen sowie generell mehr koordinierende Tätigkeiten übernehmen soll. Es gehe darum, so steht es im Gutachten, dass „die Gesundheitsberufe Verantwortung für das Management der Gesamtorganisation und nicht nur für die Belange der eigenen Berufsgruppe bzw. Abteilung übernehmen.

Globales Lernen?

Andere Länder machen es vor: In Großbritannien, Skandinavien oder den USA zum Beispiel haben die Krankenschwestern studiert und übernehmen zahlreiche ärztliche Aufgaben von der Erstdiagnose bis zur therapeutischen Verordnung. Umfragen zufolge ist in diesen Ländern das Image der Pflegenden annähernd so hoch wie das der Ärzte. Auch andere Gesundheitsberufe werden stärker in die medizinische Versorgung eingebunden, der Arzt erst viel später als in Deutschland eingeschaltet. So bleibt es in Großbritannien die absolute Ausnahme, dass ein Arzt im Notdienst selbst zu einem Patienten fährt. Meist schickt die Schwester einen Sanitäter hin, denn die wenigen Ärztinnen und Ärzte müssen auf der Station verfügbar bleiben. In den USA entscheiden Physiotherapeuten, ob der Patient eine Reha braucht.

Heilberufeausweis für die Pflege

„Wir wollen nicht länger Anhängsel eines medizinisch dominierten Gesundheitssystems sein“, erklärte denn auch Marie-Luise Müller vom DPR beim Kongress Pflege 2008 kürzlich in Berlin. Auf dem Kongress des Pflegemagazins „Heilberufe“ (Verlag Urban & Vogel) zeigten sich die Pflegeverbände kämpferisch. Sie fordern ein nationales Berufsgesetz, in denen die Aufgaben der rund 1,2 Millionen professionell Pflegenden verbindlich geregelt werden. Position und Tätigkeiten der nicht ärztlichen Heilberufe sind in Deutschland bislang gesetzlich nicht festgeschrieben, was die Zusammenarbeit und Abgrenzung gegenüber Ärzten erschwert. Zudem verlangt der Deutsche Pflegerat einen Heilberufeausweis auch für die Pflegekräfte, damit diese ebenfalls Zugang zur elektronischen Gesundheitskarte haben. Weiterer Kritikpunkt: Die Fallpauschalen, mit denen Krankenhäuser ihre Leistungen mit den Krankenkassen abrechnen, bilden bislang nur den medizinischen, nicht aber den pflegerischen Arbeitsaufwand ab – was den massiven Personalabbau mit verantwortet.

Deprofessionalisierung und Medizin light

Bei der deutschen Ärzteschaft lösen solche Vorstöße Ängste und Konkurrenzgefühle aus. „Wenn wir gemeinsam die Versorgung der Patienten verbessern wollen, so kann dies nicht dadurch geschehen, dass einige Vertreter der Pflegeverbände der irrigen Meinung sind, ärztliche Tätigkeiten ließen sich einfach auch von Pflegekräften übernehmen“, schreiben Prof. Dr. Jörg-Dietrich Hoppe, Präsident der Bundesärztekammer, und Dr. Andreas Köhler, Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Bundesvereinigung. Von einer „Medizin light“ und einer „Deprofessionalisierung des Arztberufes“ ist die Rede.

Immer weniger Zeit für die eigentliche Pflege

Auch unter den Pflegekräften gibt es Bedenken. Fragt man auf den Stationen nach, hört man doch schon mal das zaghafte Eingeständnis, Angst vor der Verantwortung zu haben. Zudem drängt sich die Frage auf, ob mit der Übernahme ärztlicher Aufgaben durch die Pflege nicht einfach nur teure Arztstunden eingespart werden sollen. So mahnte die Pflegewissenschaftlerin Prof. Sabine Bartholomeyczik auf dem Kongress Pflege in Berlin: „Wir sollten Aufgaben ablehnen, die die Kernaufgaben der Pflege verdrängen.“ Schon jetzt, so zeigt eine Studie der Universität Witten/Herdecke, bleibt den Pflegenden immer weniger Zeit mit der eigentlichen Pflege, wie zum Beispiel für Anleitung und Beratung von Patienten und Angehörigen oder für Prophylaxen.

Agnes – Handlangerfunktion der Pflegenden

Auch Modellprojekte für den ambulanten Bereich, wie die „Gemeindeschwester Agnes“, sieht Prof. Bartholomeyczik kritisch und spricht von einer „Handlangerfunktion der Pflegenden in arztschwachen Gebieten“. „Agnes“ steht für arztentlastende, gemeinde-nahe, e-health-gestützte systemische Intervention. Speziell ausgebildete Krankenschwestern in den Ländern Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern führen eigenständig Hausbesuche durch, bei denen nur Regeluntersuchungen wie Blutdruckmessen oder EKG nötig sind. Stellt die Schwester etwas Auffälliges fest, kann sie dem Arzt die Daten sofort über PC übermitteln und ihn virtuell zum Hausbesuch dazubitten. So sollen Landärzte in unterversorgten Gebieten entlastet werden. Der DPR kritisiert, dass bei dem Projekt „Agnes“ das originär pflegerische Potenzial nicht genutzt werde, stattdessen „im Wesentlichen ärztliches Handeln über Telematik abgesichert werden soll“.

Tandem-Praxis und Familiengesundheitspflege

Für sinnvoller erachtet der DPR das Modellprojekt der „Familiengesundheitspflege“. Schwerpunkte der Familiengesundheitspflege sind Prävention und Gesundheitsförderung, also im Einzelnen: präventive Hausbesuche, Erkennen von Gesundheitsgefahren, Beratung und Begleitung bei Krankheit, Case-Management für die gesamte Familie. Insbesondere sozial schwache Familien sollen dazu ermuntert werden, Leistungen des Sozial- und Gesundheitswesens in Anspruch zu nehmen.

Ebenfalls positiv wird das Konzept der „Tandem-Praxis“ aufgenommen. In dem Forschungsprojekt der Universität Witten/Herdecke arbeiten eine Ärztin bzw. ein Arzt und eine Pflegekraft im Umfeld einer Arztpraxis eng zusammen. Das heißt: Zusätzlich zu einer ärztlichen Beratung werden die Patienten – im Projekt Patienten mit einem offenen Bein (Ulcus cruris) – bei der Wundversorgung von einem Pflegeexperten begleitet und beraten.

Kein Einsparfaktor Pflege

Versorgung chronischer Wunden, Förderung der Kontinenz bei Stuhl- oder Harninkontinenz, Beratung für Diabetiker – das sind Beispiele für neue Berufsbilder, die die pflegerische Kompetenz nutzen. Während Ärzte den Fokus auf die „Krank-heit“ legen, steht für Pflegende das „Krank-sein“ im Mittelpunkt, betont Prof. Bartholomeyczik. Hilfestellung für das Leben mit einer Krankheit, Hilfe zur Selbstpflege – diese Kernaufgabe der Pflege muss das deutsche Gesundheitswesen schätzen lernen. Nur so kann Pflege, da sind sich Vertreter der Pflegeverbände und Pflegewissenschafter einig, vom „Einsparfaktor“ zum „Erlösfaktor“ werden.