Gedanken über die Zukunft. Rolf Dieter Müller im Ruhestand – ein Portrait

Rolf Dieter Müller ist in der großen, Veränderungsprozessen unterworfenen Gesundheitswirtschaft einerseits eine Art Dinosaurier, denn er war ein halbes Jahrhundert bei nur einem Unternehmen beschäftigt, der AOK. Anderseits ist der gebürtige Westfale quicklebendig, das sieht jeder, der der Wachheit seiner Augen begegnet und seinem offen-verschmitzten Lächeln. Müller strahlt nicht nur Schalk und Cleverness aus, dieser vitale Dino der Arbeitswelt von gestern macht sich mit Eifer und Leidenschaft Gedanken über die Welt der Gesundheit von morgen.

Das Schlachtross

Wenn der Ex-AOK-Boss den Raum betritt, ist gleich in den ersten Sekunden klar: Dieser Mann ist ein echtes Schwergewicht. Ein Weiser mit gütigem Lächeln, der in der Sache knallhart sein kann. Der aber klug genug ist, nichts mit Gewalt erzwingen zu wollen, weil er seine Ziele nicht gegen, sondern mit den Menschen gemeinsam erreichen will. Ein erfahrenes Schlachtross mit viel Kampferfahrung, in dem klare Prinzipien gereift sind wie ein guter Wein, der aber spritzig genug ist, um geistig beweglich zu bleiben. Dieser außergewöhnliche Herr mit dem gewöhnlichen Namen möchte, wie fast alle Manager, jede Situation kontrollieren. Er beobachtet und taxiert sein Gegenüber genau, versetzt sich behutsam in den anderen hinein und kalkuliert die Gedanken, die im Kopf seines Dialogpartners herumspuken. Im Gespräch selbst aber zeigt er Offenheit und Flexibilität.

Weitsicht – wissen, wann es Zeit ist zu gehen

Rolf Dieter Müller ist einer, der früher in den Ruhestand gegangen ist als nötig, nicht aus Flucht vor der Verantwortung oder weil er wettkampfmüde wäre, nein, weil er als Rentner die Freiräume findet und die Kräfte sammeln kann, die er braucht, um Projekte anzupacken, die ihm wirklich wichtig sind. Müller ist keiner, der an seinem Sessel klebt. Er hatte die Weitsicht, selbst zu wissen, wann es Zeit ist zu gehen – aus freien Stücken, auf dem Höhepunkt seines Ansehens. Der Vertrag lief sogar noch bis 2009, dennoch wollte er an seinem 63. Geburtstag, im Oktober 2006, das Ruder einem Jüngeren übergeben. Er wurde inständig gebeten, noch ein halbes Jahr länger zu bleiben und ließ Gnade walten. Mit Ruhm und in Ehren wurde er verabschiedet.

Hatnäckiges autodidaktisches Erkämpfen

Gestartet ist der ehemalige Herrscher über einen 2,2 Milliarden-Etat ziemlich weit unten. Mehr als die Volksschule war für ihn wegen seiner Herkunft nicht drin. Seine Eltern bestimmten: Der 14-jährige Rolf Dieter macht eine Lehre bei der AOK. “Das war das alte Erziehungsmodell, die alten Herrschaften sagten, wo’s langgeht“, so der inzwischen 64-Jährige ohne eine Spur von Bitterkeit. Auch wenn er beklagt, dass heute die soziale Schicht viel zu stark über Bildungschancen und damit die Teilhabe an der Gesellschaft entscheidet, sieht der Arbeitersohn in seinem Werdegang sogar Vorteile. „Ich musste mir eine Menge autodidaktisch erkämpfen, war so hartnäckiger und konnte Niederlagen viel besser wegstecken als so mancher privilegierte Akademikersohn.“ Rolf Dieter Müller ist ein starkes Beispiel, wie weit man es früher in diesem Land bringen konnte, auch ohne Abitur.

Verlässlichkeit und Treue sind zwei zentrale Grundpfeiler in Müllers Leben. Das zeigen seine private und seine berufliche Ehe. Mit seiner Frau ist er seit 42 Jahren glücklich verheiratet, mit der AOK ging er 49 Jahre lang durch Höhen und Tiefen. Er weiß, Berufsbiografien wie seine eigene sterben aus. Dennoch hält der Ex-Manager auch in der Wirtschaftswelt längerfristige Bindungen für wichtig: „Was haben Sie von einer Führungskraft, die nach drei Jahren wieder weg ist, das Unternehmen aber auf den Kopf gestellt hat? Da werden dann oft Entwicklungen angestoßen, die nicht sinnvoll zu Ende geführt werden. Die Folge: Die Verunsicherung unter den Mitarbeitern ist groß.“ Aber erlahmen nach Jahrzehnten in nur einer Firma nicht zwangsläufig Motivation und Eigeninitiative? „Immer wenn es mir zu langweilig wurde, kam eine Veränderung innerhalb der AOK, ich bin allein sieben Mal umgezogen, immer kamen neue  Herausforderungen, die mich begeistert haben.“

Pankow ist doch nicht Harlem oder die Bronx

Nach Stationen in Wuppertal, Hannover, Stuttgart und Dresden kam Rolf Dieter Müller kurz nach der Wende 1991 nach Berlin. Was ihn am meisten verblüffte, war die nicht überwundene Mauer in den Köpfen der Menschen. „Noch 1992 sagten mir Nachbarn, durch Ostberlin fahren wir nicht, sie nahmen also lieber zeitfressende Umwege in Kauf, das macht mich heute noch sprachlos“, als sei Pankow Harlem oder die Bronx. Das Ehepaar Müller kannte dagegen keine Berührungsängste. Kreuz und quer fuhren sie durch Berlin, auf der Suche nach einer Bleibe. Ihre neue Heimat fanden sie in Lübars, einem kleinen Paradies am Rande von Berlin, mit hübschen alten Häuschen, unberührten Wiesen, Pferdekoppeln und verschlafenen Teichen.

Angesteckt von der Wende-Euphorie dachte der Westdeutsche Müller, in Berlin würde er auf Lust an der Veränderung treffen. Tatsächlich stieß er auf eine Bunker- und Blockadementalität. Immer wenn er den Status Quo in Frage stellte, kam zunächst als Reflex die Antwort: „Nein, das geht nicht. Wieso? Das haben wir immer so gemacht. Warum? Weil es immer so war. Erst Mitte der 90er Jahre wurde die Offenheit größer und die Berliner Larmoyanz kleiner.“

Zu viele Gutmenschen auf einem Haufen bereiten mir Unwohlsein

Nach Berlin kam Rolf Dieter Müller „als Einzelkämpfer“, ohne eigene Mannschaft, ohne Netzwerk, ohne Seilschaften. Der AOK-Manager reiste nicht, wie sonst oft üblich, auf einem bestimmten politischen Ticket. Auch wenn er bekennt: „Zu viele Gutmenschen, die mich umzingeln, bereiten mir ein gewisses Unwohlsein“, und er im konservativen Anzug und Goldkettchen am Revers nicht gerade wie ein leidenschaftlicher Anhänger der damaligen Partei des demokratischen Sozialismus wirkt, ist er dennoch selbst mit PDS-Senatoren und Staatssekretären immer gut klargekommen, dank seines diplomatischen Geschicks. Eine Überlebensvoraussetzung im rot-roten Berlin, in dem die SPD der heutigen Linkspartei alle wichtigen Schaltzellen der Gesundheitspolitik überlassen hat. Der geschickte Strippenzieher hat sich seine Unabhängigkeit bewahren können und darauf ist er stolz. „Ich bin politisch neutral und das ist auch gut so. Denn so kann ich viel mehr bewegen.“

Der Einheitstaumel hat den Blick auf die Wirklichkeit oft verstellt

Als Hauptgrund für viele Fehlentwicklungen des Einigungsprozesses sieht Müller den Einheitstaumel, der den Blick auf die Wirklichkeit zu oft verstellt habe. „Nehmen Sie die Reha-Einrichtungen, die im Osten massenweise aus dem Boden gestampft wurden. Die Kapazitäten wurden enorm ausgeweitet, bei gleichzeitiger Verkürzung der Reha-Maßnahmen. Die Folge: Wir haben dort tolle Häuser. Die Belegung aber ist miserabel, weil wir viel zu viele Betten haben, für viel zu wenige Patienten.“

Bei der AOK stand Müller vor riesigen Problembergen. Eine hochdefizitäre Kasse mit Millionenlöchern und einem aufgeblähten Apparat. Da gab es Situationen, da fühlte sich selbst der optimistische Macher am Abgrund: „Da denken Sie dann: Ich mag nicht mehr, das hat alles keinen Sinn. Wenn Sie dann aber von Ihren Mitarbeitern das Gefühl bekommen, die stehen voll hinter Ihnen, dann gibt das Kraft, weiterzukämpfen.“

Ein Irrsinn, wenn Manager dafür belohnt werden, Menschen arbeitslos zu machen

Am schwierigsten war für den Mann aus dem Westen der gewaltige politische und öffentliche Druck, betriebsbedingte Kündigungen durchzusetzen. Es wäre der einfachste Weg gewesen. Doch Müller widersetzte sich. „Es hätte das Prinzip ‚Last in, first out’ gegolten, ich hätte also alle Ostberliner rauswerfen müssen. Da wäre die Hölle los gewesen. Das konnte und wollte ich auf keinen Fall machen.“ Stattdessen schmiedete er mit den Gewerkschaften einen Beschäftigungspakt. Das Prinzip: Einkommensverzicht für Arbeitsplatzerhalt. Konkret, eine Nullrunde für drei Jahre, für alle Mitarbeiter, auch für das Management mit Müller an der Spitze: „Sie müssen da solidarisch sein, sonst verlieren sie Ihre Glaubwürdigkeit.“ Der Ex-AOK-Chef gehört noch zu den Managern, deren Gehälter verhältnismäßig moderat sind. Sein Grundgehalt lag bei 120.000 Euro, erfolgsabhängig verdiente er schließlich 155.000 Euro, dank seiner Leistungen: Einsparungen von 400 Millionen Euro im Zeitraum von zehn Jahren im Vergleich zur Kostenentwicklung der gesetzlichen Kassen bundesweit. Managergehälter à la Ackermann kritisiert er dagegen scharf: „Es ist ein Irrsinn, wenn Leute dafür belohnt werden, dass sie andere arbeitslos machen, und dann auch noch nach dem Staat rufen, dass er die Folgekosten bezahlen soll. Dieselben Manager, die über zu hohe Lohnzusatzkosten klagen, sind dafür selbst verantwortlich, weil sie Tausende in die Arbeitslosigkeit schicken.“

Die größte Angst vor Beurteilungen hatten die Führungskräfte

Soziale Verantwortung ist Rolf Dieter Müller wichtig. Er ist zwar ein Typ, der harte Entscheidungen treffen kann: „Manchmal muss es auch Trennungen geben, im Interesse des Ganzen, aber auch des Kollegen, wenn dieser dauerhaft überfordert ist“, doch der ehemalige Krankenkassen-Chef steht für moderne Unternehmensführung. „Es kommt darauf an, die Menschen bei notwendigen Veränderungen mitzunehmen. Alle Mitarbeiter müssen lernen, konstruktive Kritik als etwas Positives zu begreifen.“ Als Mann der Tat hat Müller ein revolutionäres Beurteilungssystem eingeführt. Vorbei die Zeiten, als allein die Chefs Zensuren verteilten. Bei der AOK Berlin beurteilen auch die Untergebenen ihre Vorgesetzten, auf freiwilliger Basis. „Die größte Angst vor Beurteilungen hatten die Führungskräfte. Entscheidend ist aber hier, Sie dürfen keinen Druck oder Zwang ausüben, sonst geht es schief“, berichtet Müller. Der überwältigende Erfolg gibt ihm Recht. Wurde am Anfang noch 90 Prozent der Kritik anonym geäußert, geschieht dies heute zu 80 Prozent offen. Das zeigt eine gewachsene Kultur des Vertrauens. Das entscheidende Grundprinzip beschreibt der Ex-AOK-Boss so: „Bei Konflikten habe ich nie über die Mitarbeiter gesprochen, sondern immer direkt mit den Betroffenen.“

Informationstechnologie als Schlüssel zur Verbesserung der Versorgung

Rolf Dieter Müller möchte auch als AOK-Chef a.D. noch immer etwas bewegen. Die größte Herausforderung: Er möchte dazu beitragen, dass in Deutschland keine Zwei-Klassen-Medizin entsteht. „Es geht dabei nicht um die Alternative Einbett- oder Zweibettzimmer.“ Es gehe allein um die medizinische Qualität. Nicht alles, was heute möglich ist, sei auch notwendig und sinnvoll, „so manche Zusatzleistung für Privatpatienten dient allein der Auslastung teurer Geräte.“ Müller möchte sich als Sprecher des Handlungsfeldes Prävention, Rehabilitation und Ernährung im Netzwerk Gesundheitswirtschaft dafür stark machen, dass Menschen Krankheiten weniger hilflos gegenüberstehen und Kranke lernen, besser mit ihrer Krankheit umzugehen. Die Informationstechnologie ist für den einstigen GKV-Vertreter ein Schlüssel für die Verbesserung der Versorgung. „Dank telemedizinischer Systeme kann man zum Beispiel Patienten bei Herzerkrankungen besser überwachen und sehr frühzeitig wirksam eingreifen.“

Als Allmächtiger des Gesundheitssystems würde Müller vier Dinge ändern

Und wenn Rolf Dieter Müller der allmächtige Herrscher im deutschen Gesundheitssystem wäre, was würde er verändern? Vier Dinge. Erstens würde er die immer noch viel zu starren Grenzen zwischen dem ambulanten und stationären Bereich einreißen. Mit der Folge einer Kostenersparnis und besseren Patientenversorgung, da die vorhandenen Ressourcen effizienter genutzt und unnötige Mehrfachuntersuchungen vermieden werden könnten. Zweitens würde er einen umfassenden Pflege- und Krankenhausführer erstellen, sodass jeder Patient alle Häuser miteinander vergleichen kann. Drittens würde er die Medizinerausbildung kritisch danach hinterfragen, was heute noch zeitgemäß ist, und vor allem die psychologisch-kommunikative Schulung von Ärzten bei Patientengesprächen verbessern. Viertens würde er schließlich verhindern, dass einzelne  Lobbygruppen unverhältnismäßig viel Einfluss auf die Meinungsbildung nehmen, um so notwendige Veränderungsprozesse zu blockieren.

Rolf Dieter Müller sitzt da wie ein ruhender Pol. Doch in ihm brodeln noch immer viele Energien. Besonders wenn es um junge Menschen geht. Selbst als die Finanzkrise der AOK Berlin kaum Luft zum Atmen ließ, stellte Müller 60 Azubis ein und garantierte jedem, der Leistung bringt, auch einen Arbeitsvertrag. Am Ende wurden stolze vier Fünftel der Lehrlinge übernommen. „Wir müssen uns schon jetzt auf den kommenden Fachkräftemangel einstellen, wir müssen in die Zukunft investieren, indem wir die Jungen fördern.“ Besonders genießt er den direkten Kontakt zu wissenshungrigen jungen Erwachsenen, aktuell an der TU Berlin, hier kann er an künftige Gesundheitsökonomen sein Fachwissen weitergeben. Wenn er an die AOK-Azubis oder TU-Studenten denkt, beginnen seine Augen zu leuchten. Müller glaubt an beides, an die Zukunft und die Jugend. Das spürt man. Denn jetzt wirkt der 64-jährige Ruheständler mit seinen 49 Jahren AOK auf dem Buckel auf einmal ganz jung.